Viele deutsche Unternehmer gehen davon aus, dass der Prozess im Ausland, namentlich im Vereinigten Königreich, doch keine allzu gravierenden Unterschiede zum heimischen Zivilprozess aufweisen würde. Doch die Annahme ist verfehlt, dass es sich um einen normalen Zivilprozess, nur in englischer Sprache, handele. Das Prozessrecht Schottlands, Wales und Englands weicht so fundamental von den Regeln ab, die in deutschen Gerichtssälen gelten, dass es oft ein böses Erwachen gibt.
Kampf ums Recht
Der deutsche Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering hielt 1872 seinen berühmten Vortrag „Der Kampf ums Recht“. Die in der Streitschrift vertretenen Thesen bilden den Grundstein deutschen Rechtsdenkens und Prozessverhaltens deutscher Anwälte: Diese sind um scharfe Worte höchst selten verlegen und weder schüchtern noch zurückhaltend. Schon in vorprozessualen Schriftsätzen, erst recht in gerichtlichen Schriftsätzen, zeigen sie sich angriffslustig. Rudolf von Jherings Wirken setzt sich dabei bis in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) fort: Unter Verweis auf den „Kampf ums Recht“ hat das BVerfG polemische und harte Kritik am Gegner, ja sogar an der Staatsanwaltschaft und dem Gericht ausdrücklich für zulässig erklärt.
Ganz anders liegt es im Vereinigten Königreich. Während im deutschen Rechtskreis durchsetzungsstarke Anwälte überaus geschätzt werden, gilt im Vereinigten Königreich, dass die Befassung des Gerichts tunlich zu vermeiden ist. Anwälte sollen gerade nicht scharf oder polemisch, sondern vernünftig handeln und Zurückhaltung walten lassen. Der Kompromiss und die gütliche Einigung steht ganz im Vordergrund. Die Befassung des Gerichts ist stets nur letzter Ausweg.
Offenlegung
Man mag das noble englische Verhandeln als wesentlichen Ausdruck des englischen stiff upper lip-Habitus der dortigen Anwaltschaft verstehen. Englischen Anwälten wird in der Ausbildung vornehme Zurückhaltung antrainiert. Gleichwohl sind die wesensprägenden Unterschiede nicht etwa im Duktus oder der Ausbildung zu suchen, sondern im Prozessrecht des Vereinigten Königreiches.
Bis auf wenige Ausnahmevorschriften ist so etwa eine Offenlegung, also die Pflicht, der Gegenseite sämtliche Unterlagen im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit proaktiv offen legen zu müssen, der deutschen Rechtsordnung völlig fremd. Ganz anders liegt es im Vereinigten Königreich, in dem eine solche Pflicht zur disclosure besteht. Strategie und Aktionsspielraum der englischen Anwaltschaft ist somit erheblich eingeschränkt. Polemik und scharfe Worte nützen nichts, der Kampf ums Recht ist kein Kampf mehr, wenn die Parteien gläsern sind.
Prozessablauf
Unter deutschen Prozessvertretern gilt der Stehsatz: Ein Prozess ist ein Prozess. Gemeint ist damit, dass letzthin der Ablauf der mündlichen Verhandlung und die Tagesform der Beteiligten, insbesondere der Zeugen, entscheidend sein können. Selbst aussichtslose Rechtssachen können im Termin zur mündlichen Verhandlung eine positive spektakuläre Wendung nehmen.
Eine derartige Disziplinlosigkeit ist für den englischen Prozessvertreter schlicht undenkbar. Alle Zeugen und jede Partei übermitteln ihre Aussagen vorab in ausformulierter Form dem Gericht und versichern an Eides statt die Richtigkeit des Inhalts, was Parteien, Zeugen und Prozessvertreter ganz erheblich diszipliniert. Deckt sich die mündliche Aussage nicht mit der vorherigen schriftlichen Formulierung, hat man sich schon wenigstens den Unmut des Gerichts zugezogen.
Wahrheitspflicht
Dieser Unmut kann dabei außerordentlich schwer wiegen, weil im Prozessrecht des Vereinigten Königreichs die absolute Wahrheitspflicht gilt, mit der es in Deutschland zuweilen nicht gar so genau genommen wird. So finden sich mitunter im Vortrag deutscher Anwälte Passagen, die in dieser Form nicht beweisbar sein dürften. Eine Folge hat dieser „Vortrag ins Blaue hinein“ in aller Regel nicht. Die Tatsache ist nicht bewiesen, was im Großen und Ganzen auch verschmerzbar sein kann. Im Vereinigten Königreich droht in diesen Fällen der Verlust der Zulassung.
Kosten
Ein weiteres Strukturmerkmal des englischen Rechts sorgt für eine erhebliche Disziplinierung der dortigen Anwälte – und oftmals für erhebliche Frustration deutscher Mandanten. Die englische Anwaltschaft ist geteilt. Solicitors betreiben das Geschäft der Mandanten; barristers allein das Geschäft mit dem Gericht. In allen größeren Wirtschaftsprozessen werden nun beide Berufsgruppen benötigt. Der Mandant steht dabei allein im Kontakt mit dem solicitor. Dieser solicitor beauftragt sodann den barrister. Kurzum: Der Mandant kennt in aller Regel seinen Prozessanwalt nicht.
Schon diese Verdopplung der mit der Rechtssache befassten Anwälte hat Auswirkungen auf die Kosten. Insgesamt sind die Verfahrenskosten je nach Umfang und rechtlicher Komplexität fünf bis zehn Mal so hoch wie in Deutschland. Bei einem Streitwert von EUR 50.000 wird der solicitor so in aller Regel darauf hinweisen, dass die Verfahrenskosten den Streitwert sehr wahrscheinlich übersteigen werden und dass es selbst im Erfolgsfall nicht sicher ist, dass die Gegenseite die Prozesskosten in voller Höhe erstatten muss.
Anders als in Deutschland sind die Verfahrenskosten dabei insgesamt schwer vorhersehbar. Im Vereinigten Königreich gibt es keine Gebührentabellen wie im deutschen Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG). Mit dem Brexit kommt für deutsche Kläger hinzu, dass Beklagte mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich Sicherheitsleistung für die gegnerischen Prozesskosten verlangen werden.
Resümee
Nach alldem kann der Gerichtsstand im Vereinigten Königreich gewiss nicht empfohlen werden. Sollen gleichwohl Ansprüche deutscher Unternehmer dort verfolgt werden, gilt es, sich in Ansehung der Offenlegung auf die erheblichen eigenen und gegnerischen vorprozessualen und prozessualen Papiermengen und ganz erheblich höhere Kosten einzustellen. Wir empfehlen, im Vertragswerk mit englischen Geschäftspartnern auf einen heimischen oder wenigstens kontinental-europäischen Gerichtsstand zu beharren.