Für den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft schreibt § 108 Abs. 2 Satz 3 Aktiengesetz (AktG) vor, dass dieser nur Beschlüsse fassen kann, wenn mindestens drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen. Dasselbe gilt für den Aufsichtsrat einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die aufgrund der Gesetze zur Arbeitnehmermitbestimmung zwingend einen Aufsichtsrat einzurichten haben.
Diese Regelung kann zu Schwierigkeiten führen, wenn der Aufsichtsrat insgesamt nur aus drei Mitgliedern besteht. Fehlt ein Aufsichtsratsmitglied, kann der Aufsichtsrat keine wirksamen Beschlüsse fassen; er ist beschlussunfähig. Das mag im Einzelfall hinnehmbar sein, birgt aber erhebliches Missbrauchspotential: Boykottiert ein Aufsichtsratsmitglied dauerhaft die Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen, ist der Aufsichtsrat dauerhaft beschlussunfähig und lahmgelegt.
Was ist in einem derartigen Fall zu tun? Fraglos verletzt das boykottierende Aufsichtsratsmitglied seine Amtspflichten, denn jedes Aufsichtsratsmitglied ist zur Teilnahme an den Sitzungen und Mitwirkung an Beschlussfassungen verpflichtet. Diese Erkenntnis allein hilft allerdings noch nicht weiter. Man könnte auf die Idee kommen, den Aufsichtsrat analog § 104 AktG durch das Gericht ergänzen zu lassen. Nach dieser Vorschrift ergänzt das Gericht auf Antrag den Aufsichtsrat, wenn dem Aufsichtsrat die zur Beschlussfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern nicht angehört. Das Problem im Fall des Boykotts ist aber, dass das boykottierende Aufsichtsratsmitglied trotz des Boykotts weiterhin dem Aufsichtsrat angehört. Der Tatbestand des Gesetzes ist damit nicht erfüllt. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf den Fall des Boykotts kommt nicht in Betracht, da es an einer vergleichbaren Interessenlage fehlt: Anders als bei einer dauerhaften Verhinderung eines Aufsichtsratsmitglieds, die § 104 AktG vor Augen hat, könnte das boykottierende Aufsichtsratsmitglied den Boykott jederzeit beenden und die Beschlussfähigkeit des Gremiums wieder herstellen und das Amt des gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds damit beenden. Wenn das Aufsichtsratsmitglied danach wieder in Boykott treten würde, müsste der gesamte Vorgang wiederholt werden, gegebenenfalls mehrfach. Das ist keine rechtssichere Lösung. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat daher eine analoge Anwendung von § 104 AktG auf den Fall eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds abgelehnt (B. v. 09.01.2024, II ZB 20/22).
Boykottiert ein Aufsichtsratsmitglied dauerhaft den Aufsichtsrat, so kann es gemäß § 103 Abs. 1 Satz 1 AktG von der Hauptversammlung ohne Begründung abberufen werden. Lassen die Mehrheitsverhältnisse in der Hauptversammlung das nicht zu, gibt es dennoch einen Ausweg:
Nach § 103 Abs. 3 AktG hat das Gericht auf Antrag des Aufsichtsrats ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, wenn in dessen Person ein wichtiger Grund vorliegt. Der dauerhafte Boykott der Beschlussfassungen im Aufsichtsrat ist ohne Zweifel ein wichtiger Grund zur Abberufung. Allerdings setzt der Antrag an das Gericht wiederum einen Beschluss des Aufsichtsrates voraus und es ist davon auszugehen, dass das boykottierende Aufsichtsratsmitglied gerade diesen Beschluss wiederum boykottieren wird. Dieses Dilemma löst sich wie folgt: Ein Aufsichtsratsmitglied, gegen das ein Abberufungsverfahren nach § 103 Abs. 3 AktG eingeleitet werden soll, unterliegt bei der Abstimmung einem Stimmverbot und kann die Einleitung des Abberufungsverfahrens deshalb nicht verhindern. In einem dreiköpfigen Aufsichtsrat kann und muss das betreffende Aufsichtsratsmitglied zur Vermeidung einer Beschlussunfähigkeit des Organs an der Beschlussfassung teilnehmen, hat sich aber der Stimme zu enthalten. Infolge dessen missbraucht das betreffende Mitglied seine formale Rechtsposition, wenn es sich auf die durch sein eigenes schuldhaftes Fernbleiben verursachte Beschlussunfähigkeit beruft, um so den Beschluss über den erforderlichen Antrag zur Abberufung zu vereiteln. Im Fall der Abberufung eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds ist daher der Antrag nach § 103 Abs. 3 AktG auch dann zulässig, wenn bei der Beschlussfassung nur die zwei übrigen Aufsichtsratsmitglieder mitgewirkt haben, der Aufsichtsrat also an sich beschlussunfähig war (BGH, B. v. 09.01.2024, II ZB 20/22).