Kartellrecht im Vertrieb ist inzwischen vielerorts ein großes Thema. Doch welche Anforderungen und Möglichkeiten ergeben sich aus dem deutschen und europäischen Kartellrecht neben den häufig bereits bekannten Vertriebsaspekten Exklusivität, Preisbindung und Gebietszuweisungen? In unserem Praxisbericht zeigen wir die Bedeutung eines selektiven Vertriebssystems aus Sicht des Kartellrechts und welche Fallstricke es dabei zu beachten gilt.
Im letzten Jahr haben wir unter anderem einen namhaften Premiumgrillhersteller bei der Einführung und Umsetzung eines selektiven Vertriebssystems zunächst für den deutschen Markt beraten. Dem Hersteller, der selbst in Deutschland nicht im Vertrieb an Endkunden tätig ist, ging es dabei darum, anhand geeigneter Kriterien bei Marketing und Vertrieb der technisch anspruchsvollen und qualitativ hochwertigen Produkte eine bestmögliche Produktberatung- und Serviceleistung für den Endkunden sicherzustellen. Gleichzeitig sollte das damit einhergehende Premiumimage der Marke gewährleistet werden. Letztendlich sollten durch das selektive Vertriebssystem neben dem Hersteller auch die autorisierten Händler sowie letztendlich der Endkunde profitieren.
Grundsätzlich können auch selektive Vertriebssysteme eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung entfalten und damit gegen das Kartellverbot gem. Art. 101 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), § 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verstoßen. Dies ist der Fall, wenn sie den wettbewerblichen Handlungsspielraum der Wiederverkäufer im Absatz ihrer Produkte ungerechtfertigt einschränken. Die Anforderungen eines selektiven Vertriebssystems können nicht nur die Auswahl der Endkunden beschränken, sondern sogar Höhe der Preise beeinflussen. Allerdings besteht die Besonderheit eines selektiven Vertriebssystems darin, dass es im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems grundsätzlich kartellrechtlich zulässig ist, Händlern, die nicht zum selektiven Vertrieb zugelassen sind, den Vertrieb an Endkunden zu untersagen. Grund hierfür ist die Annahme, dass mit dem selektiven System regelmäßig überwiegend, positive Elemente für den Endkunden einhergehen.
Dabei kann ein selektives Vertriebssystem verschiedene Anforderungen an die Darbietung, die Auswahl und Bereithaltung der angebotenen Produkte sowie an den Service und die Beratung beim Verkauf beinhalten. Im Einzelnen können die Anforderungen sowohl in Bezug auf physische Geschäftsräume als auch in Bezug auf den Verkauf über das Internet vorgesehen werden. So ging es dem Hersteller in dem genannten Praxisfall insbesondere um die Vermittlung des besonderen Images der Produkte, welches durch eine bestimmte Darbietung am stationären Point of Sale als auch auf den Webseiten der Händler berücksichtigt werden muss.
Vorgaben hinsichtlich der Art und Weise des Vertriebs werden in der kartellrechtlichen Beurteilung grundsätzlich als sog. qualitative Anforderungen angesehen. In der Regel sind diese unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten unkomplizierter einzuführen. Grund hierfür ist, dass das Vorliegen qualitativer Anforderungen in physischen Geschäftsräumen gewöhnlich nicht dazu geeignet ist, die tatsächliche Reichweite des Händlers und damit den Wettbewerb einzuschränken. Im Hinblick auf den Internetvertrieb kann dies schnell anders sein: Auch Vorgaben zur Art und Weise des Verkaufs können aufgrund der Natur des Internets Auswirkungen auf die Reichweite des Internethändlers und damit auf den Wettbewerb haben. Daher ist diesbezüglich eine detaillierte, einzelfallbezogene Analyse der Anforderungen und ihrer Auswirkungen vorzunehmen.
Ein generelles Verbot für den Händler, Waren über das Internet zu verkaufen, wird in jedem Fall als eine Kernbeschränkung und damit als Verstoß gegen das Kartellverbot angesehen. So führt beispielsweise die Europäische Kommission in ihren Vertikal-Leitlinien aus: „Innerhalb eines selektiven Vertriebssystems sollte es den Händlern freistehen, sowohl aktiv als auch passiv und auch mit Hilfe des Internets an alle Endverbraucher zu verkaufen. Die Kommission sieht daher jede Verpflichtung als Kernbeschränkung an, die die Vertragshändler davon abhält, das Internet zu benutzen, um mehr und andere Kunden zu erreichen, indem ihnen Kriterien für Onlineverkäufe auferlegt werden, die insgesamt den Kriterien für Verkäufe im physischen Verkaufspunkt nicht gleichwertig sind.“ Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner Grundsatzentscheidung „Pierre Fabre“ festgestellt, dass ein Totalverbot des Internetvertriebs seiner Natur nach zu einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung führe. In der Entscheidung ging es unter anderem um eine Klausel, nach der sämtliche Verkäufe in Räumlichkeiten und in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten erfolgen mussten, wodurch das Internet praktisch als Vertriebsweg ausgeschlossen war. Nach der Feststellung des EuGH kommt es damit in einer Beurteilung auch auf die Umstände des Einzelfalls (wie z. B. starker, auch markeninterner Wettbewerb sowie geringe Marktanteile) nicht mehr an.
Entscheidend ist also, wie Anforderungen an den Internetvertrieb, die diesen nicht unmittelbar und absolut verbieten, zu werten sind, d.h. ob es sich um noch qualitativ zulässige Anforderungen handelt oder sie bereits als Kernbeschränkung einzuordnen sind. In unserem Praxisfall legte der Hersteller unter anderem Wert darauf, dass beim Erwerb eines seiner qualitativ hochwertigen Produkte eine entsprechend kompetente Beratung zur Verfügung steht. So wurde in unserem Fall die Anforderung einer qualifizierten telefonische Beratung durch geschulte Mitarbeiter verlangt. Weiterhin wurde eine Vorgabe im Hinblick auf die Produktpräsentation und die darzustellenden Produktbilder und Beschreibungen gefordert, um eine mit dem stationären Geschäft vergleichbare Darstellung zu erhalten. Gleiches gilt für Anforderungen an Versand und Aufbau der Produkte.
Schwieriger wird die Ausgestaltung von Anforderungen, wenn es darum geht, ob es einen kartellrechtlich legitimen Zweck darstellt, beispielsweise die Nutzung von Preisvergleichsmaschinen zu beschränken, die Werbung über Webseiten Dritter oder die Nutzung von Drittplattformen zu verbieten. Jedenfalls in Hinblick auf die Zwecke „Aufrechterhaltung des Fachhandels“ und „Schutz des Markenimages“ stehen das Bundeskartellamt und die deutsche Rechtsprechung solchen Klauseln kritisch gegenüber. So hat zuletzt auch das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 5. April 2017 das Bundeskartellamt dahingehend bestätigt, dass Unternehmen Händlern Nutzung von Preissuchmaschinen nicht generell verbieten dürfen. Auch die Europäische Kommission hat im Mai 2017 in dem Abschlussbericht zu ihrer Sektoruntersuchung im Bereich E-Commerce (vgl. SPIEKER & JAEGER Mandanteninformation November 2016) noch einmal betont, dass nach ihren Feststellungen durch den verstärkten Rückgriff auf selektive Vertriebssysteme die Hersteller ihre Vertriebsnetze stärker kontrollieren können, insbesondere in Bezug auf die Qualität des Vertriebs, aber auch auf die Preise. Dies könne zum Teil kartellrechtlich vertretbar sein, weil dadurch die Qualität des Produktvertriebs verbessert würde. Andere Praktiken könnten hingegen eine größere Auswahl und niedrigere Preise im elektronischen Handel, die Verbrauchern zugutekommen würden, verhindern und rechtfertigen ein Einschreiten der Kommission zur Durchsetzung der EU-Wettbewerbsvorschriften.
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich trotz aller kartellrechtlichen Hürden in der Regel auch im Internetvertrieb stichhaltige Anforderungsprofile erstellen lassen, die auf der einen Seite kartellrechtlich zulässig sind, jedoch auch den jeweiligen Bedürfnissen des Herstellers gerecht werden. Insgesamt bietet ein selektives Vertriebssystem interessante Strukturierungsmöglichkeiten für einen effektiven Vertrieb. Gerne stehen wir Ihnen für Rückfragen hierzu zur Verfügung.