Das Europäische Recht kennt mit der „Verordnung“ und der „Richtlinie“ zwei mögliche Rechtsakte, die jeweils der europäischen Rechtsangleichung dienen. Während eine „Verordnung“ stets allgemein gültig und in den Europäischen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist, zeichnet sich eine „Richtlinie“ dadurch aus, dass sie erst von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgewandelt werden muss.
Während Verordnungen schon wegen ihres Anwendungsvorrangs gegenüber nationalem Recht durchaus eine gewisse Präsenz im Bewusstsein der Rechtsanwender erlangen, bleiben Richtlinien oft eher unbeachtet, obgleich ihnen häufig eine erhebliche Bedeutung zukommt. Exemplarisch sind die sogenannten Richtlinien über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (KH-Richtlinien), die das System der Regulierung von alltäglichen Verkehrsunfällen nachhaltig beeinflusst haben und maßgebliche Änderungen auch im deutschen Recht verursachten, weil nach den KH-Richtlinien durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen ist, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.
Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof
Wesentliche Triebfeder dieser europäischen Rechtsangleichung ist nicht nur die Umsetzung der Richtlinien in das Recht der Mitgliedstaaten. Da das nationale Recht im Anwendungsbereich der Richtlinien auf europäischem Recht beruht, kommt der Auslegungsbefugnis des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ganz erhebliche Bedeutung zu. Ist im Rahmen eines Gerichtsverfahrens vor einem Gericht eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ein Rechtsakt der Europäischen Union auszulegen, hat dieses Gericht die Möglichkeit, die Frage dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen. Stellt sich eine derartige Frage in einem Verfahren vor einem letztinstanzlich entscheidenden Gericht, so ist dieses sogar verpflichtet, den EuGH anzurufen.
Vor diesem Hintergrund gelangen immer wieder spektakuläre, oft auch etwas abseitige Verfahren zum EuGH, der sodann darüber zu befinden hat, ob eine mitgliedstaatliche Umsetzung einer Richtlinie genügt. Für letztere, etwas abseitige Verfahren steht etwa die Rechtssache Vnuk (Urt. v. 04.09.2014, C-162/13). Herr Vnuk wurde bei einem Rückwärtsmanöver vom Anhänger eines Traktors während des Einbringens von Heuballen auf den Dachboden einer Scheune von einer Leiter gestoßen und begehrte nunmehr vom Kfz-Haftpflichtversicherer des Traktors Schadensersatz.
Sowohl das Instanz- als auch das Berufungsgericht wiesen die Klage mit der Begründung ab, dass die Kfz-Haftpflichtversicherung nur den Schaden zu decken habe, der bei der Benutzung eines Traktors als Transportmittel auf öffentlichen Straßen entstanden sei. Der slowenische Oberste Gerichtshof legte dem EuGH gleichwohl die Frage nach der Vereinbarkeit mit den KH-Richtlinien, konkret danach vor, ob mitgliedstaatliches Recht auch die Deckung eines Schadens, wie der des Herrn Vnuk, vorsehen müsse. Der EuGH bejahte die Frage, gewiss zum Erstaunen zahlreicher Praktiker, sodass seither auch mittelbare und fernliegende Schäden bei Nutzung eines versicherten Fahrzeuges zu ersetzen waren. Das Wort von der stetigen Ausdehnung der Ersatzpflicht durch den EuGH machte die Runde und wurde namentlich durch Kfz-Haftpflichtversicherer – durchaus zurecht – kritisiert.
Deutschland und die Schockschäden
Im Vergleich zu nahezu allen anderen europäischen Mitgliedstaaten ist das deutsche Recht bei Ersatz sogenannter Schockschäden außerordentlich restriktiv. Bei Schockschäden handelt es sich nicht um körperliche, sondern allein um psychisch vermittelte Gesundheitsverletzungen, die zudem nicht einen der an dem jeweiligen Unfallgeschehen unmittelbar Beteiligten treffen, sondern einen Dritten, der etwa einem Unfall als Zeuge beiwohnt oder vom Tod oder der schweren Verletzung eines Angehörigen benachrichtigt wird. Deutsche Gerichte verwiesen darauf, dass es für einen Ersatz von Schockschäden doch einer gewissen Erheblichkeit bedürfe, die Gesundheitsbeeinträchtigung des Geschockten pathologisch greifbar und über eine übliche Betroffenheit, etwa angesichts des Todes eines nahen Angehörigen, hinausgehen müsse.
Mit Blick auf die vorbeschriebene Tendenz des EuGH, eine Ersatzpflicht der Kfz-Haftpflichtversicherer durchaus (sehr) weit zu verstehen, war daher die Entscheidung im Verfahren HUK-COBURG-Allgemeine Versicherung (Urt. v. 15.12.2022, C‑577/21) mit Spannung erwartet worden. In der Sache begehrten die minderjährigen Töchter eines bulgarischen Ehepaars von der beklagten deutschen Haftpflichtversicherung vor einem Gericht in Bulgarien Schmerzensgeld für den Unfalltod ihrer Mutter. Die Eltern waren 2013 zum Arbeiten nach Deutschland gezogen und hatten ihre 2006 und 2010 geborenen Kinder in Bulgarien zurückgelassen. Der Vater der Kinder verursachte in betrunkenem Zustand einen Unfall in Deutschland. Die Mutter, die nicht angeschnallt war, starb auf dem Beifahrersitz. Der Versicherer zahlte den Mädchen jeweils EUR 5.000, verweigerte aber die Zahlung von Schmerzensgeld unter Berufung auf das anwendbare deutsche Recht: Die festgestellten psychischen Folgen reichten nicht an eine krankhafte Störung heran und gingen über die in einem Schadensfall übliche Betroffenheit hinaus.
Wegen des deutschen Unfallortes war vorliegend tatsächlich deutsches Recht anzuwenden, sodass sich das bulgarische Gericht an den EuGH mit der Frage wandte, ob die restriktive deutsche Entscheidungspraxis überhaupt mit den KH-Richtlinien vereinbar sei. Mit Blick auf die bisherige, doch sehr geschädigtenfreundliche Rechtsprechungslinie vermochte das Urteil zu überraschen: Der EuGH entschied, dass die bisherige, restriktive deutsche Entscheidungspraxis nicht geeignet sei, das von der KH-Richtlinie verfolgte Ziel des Verkehrsunfallopferschutzes zu gefährden. Eine Entschädigung werde, so der EuGH, weder generell ausgeschlossen, noch werde sie unverhältnismäßig beschränkt. Die Erheblichkeitsschwelle bei Schockschäden deutscher Prägung wird durch den EuGH somit als europarechtskonform eingestuft.
Volte des Bundesgerichtshofes
Die Freude über den Gesinnungswandel des EuGH tut freilich nichts zur Sache, denn magere neun Tage vor der Veröffentlichung der EuGH-Entscheidung gab der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) doch einigermaßen überraschend seine Entscheidungslinie von der pathologischen Fassbarkeit und der gesteigerten gesundheitlichen Beeinträchtigung auf (Urt. v. 06.12.2022, IV ZR 168/21). Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht mehr erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.