Das Landgericht Dortmund schätzt in seiner jüngsten Entscheidung zum Kartellschadensersatzrecht nun – soweit ersichtlich – als erstes deutsches Gericht den kartellbedingten Preisaufschlag. Der folgende Beitrag stellt die grundlegenden Prämissen dieser Schadensschätzung vor.
Ausgangspunkt: Informationsasymmetrie
Das Wesensmerkmal der Kartellabsprache ist die Informationsasymmetrie zwischen den Kartellanten und den Abnehmern kartellierter Güter. Diese Abnehmer wissen naturgemäß nicht um die Absprachen der Kartellanten.
Haben die Kartellbehörden einen Kartellrechtsverstoß erfolgreich ermittelt, verschiebt sich diese Informationsasymmetrie zumindest ein wenig zugunsten der geschädigten Abnehmer. Sie erfahren, für welche Ware oder Dienstleistung ein kartellbedingt überhöhter Preis gezahlt wurde. Was die Abnehmer freilich nicht wissen ist, wie hoch der von ihnen aufgrund des Kartellrechtsverstoßes erlittene Schaden tatsächlich ist. Kaum je können Kartellbehörden den konkreten Inhalt der Absprache ermitteln – die Höhe des kartellbedingten Preisaufschlages bleibt so nahezu immer unbekannt.
Diese fortbestehende Informationsasymmetrie schlägt sich in Kartellschadensersatzverfahren unmittelbar in den Tatbestandsmerkmalen der Ursächlichkeit und der Höhe des Schadens nieder, die nach überkommener zivilrechtlicher Dogmatik jeweils durch die Abnehmer darzulegen und zu beweisen sind.
Gutachten
Für diese Darlegungen werden in zahlreichen aktuellen Kartellschadensersatzverfahren ökonometrische Gutachten angefertigt, die sowohl teuer als auch zeitaufwendig sind. Da die Gutachter die konkrete Absprache (auch) nicht kennen, versuchen sie auf Grundlage verschiedener Modelle die konkrete Schadenshöhe rechnerisch zu ermitteln. Wenig überraschend gelingt dies durchaus unterschiedlich gut: In völlig vergleichbaren Sachverhaltskonstellationen ergeben verschiedene Gutachten oft gravierende Abweichungen.
Schon in der Vergangenheit ist daher in Zweifel gezogen worden, ob es dieser Gutachten überhaupt braucht. Nach § 287 ZPO können Gerichte stattdessen die Schadenshöhe schätzen, sofern ausreichende Anknüpfungstatsachen durch die Parteien vorgetragen wurden. Gerade diesen Gedanken bemühte der Vorsitzende des 1. Kartellsenats des OLG Düsseldorf, Jürgen Kühnen, in einem 2019 erschienenen Aufsatz zur Schätzung der Kartellschadensersatzhöhe (NZKart 2019, 515 ff.).
Das LG Dortmund greift soweit ersichtlich erstmals in Deutschland diese Anregungen des Vorsitzenden seines Obergerichts auf und verweist darauf, dass nahezu alle gutachterlichen Methoden zur Ermittlung des kartellbedingten Preisaufschlages methodischen Einwänden ausgesetzt sind.
Exemplarisch hervorgehoben sei hier zunächst nur die Vergleichsmarktanalyse, die im Kern die Preisentwicklung des kartellierten Produktes mit der Preisentwicklung auf einem nicht-kartellierten Markt vergleicht. Diese scheitert etwa dann, wenn ein Markt, den man vergleichen könnte, schlicht nicht existiert. So dürfte es etwa im LKW-Kartell liegen. Mit Blick auf die nahezu umfassende europäische Marktabdeckung der Kartellabsprachen der LKW-Hersteller scheint es ausgeschlossen, einen Markt beobachten zu können, der unbeeinflusst geblieben wäre.
Neben dem Fehlen eines räumlichen Vergleichsmarktes geht die Vergleichsmarktanalyse auch dann fehl, wenn es keinen zeitlichen Vergleichsmarkt gibt, so etwa im Schienenkartell. Hier scheint es etwa ausgeschlossen, dass vor den behördlich festgestellten Zeiträumen des Kartellverstoßes überhaupt (je) ein kartellfreier Markt existierte. Die Kartellbehörden konnten hier den Kartellrechtsverstoß für die fernere Vergangenheit lediglich nicht beweisen, ließen es sich aber nicht nehmen, im Bußgeldbescheid ihre Zweifel an der Kartellrechtsfreiheit im vorhergehenden Zeitraum erkennen zu lassen.
Anknüpfungstatsachen als Abwägungselemente
Können jedoch Gutachter kein Ergebnis liefern, bleibt keine andere Möglichkeit als den Schaden in Ansehung der vorgetragenen Anknüpfungstatsachen nach § 287 ZPO schlicht zu schätzen. Der besondere Reiz der vorliegenden Entscheidung des LG Dortmund liegt dabei zunächst darin, dass sich die Kammer zu den relevanten Anknüpfungstatsachen und ihrer jeweiligen Einordnung äußert.
Dabei ist die Marktabdeckung des Kartells das zunächst offenkundigste Element. Je größer die Marktabdeckung ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Kartell wirksam war und somit einen höheren (kartellbedingten) Preis am Markt verursachte. Eine Kartellabsprache, die den Markt nicht oder nur in marginalen Teilen erfasst, ist unwirksam.
Ebenso offensichtlich ist das zweite Element der Dauer des Kartellrechtsverstoßes: Je länger eine Kartellabsprache andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Kartell wirksam war und somit einen höheren (kartellbedingten) Preis am Markt verursachte. Es verstieße gegen grundlegende und ökonomische Denkgesetze, wenn ein Kartell beibehalten werden würde, wenn es kaufmännisch sinnlos wäre. Es verstieße auch gegen die kriminelle Vernunft: Warum sollten sich Kartellanten zudem einer Strafverfolgung aussetzen, wenn sie hierin keinen Vorteil für sich erblickten.
Das weitere Element der funktionellen Austauschbarkeit der kartellierten Ware oder Dienstleistung knüpft im Kern an die grundlegenden Überlegungen des sogenannten Bedarfsmarktkonzeptes an, das aus der Fusionskontrolle bekannt ist. Danach sind dem jeweils relevanten Markt alle Waren oder Dienstleistungen zuzurechnen, die aus der Sicht der jeweiligen Marktgegenseite nach Eigenschaft, Verwendungszweck und Preislage zur Deckung eines bestimmten Bedarfs austauschbar sind. Kann die Ware oder Dienstleistung nicht ersetzt werden, gehört diese Ware oder Dienstleistung zum jeweiligen Markt. Für die Frage der Anknüpfungstatsache im Kartellschadensersatzrecht ist dieser zutreffende Gedanke so heranzuziehen, dass ein Kartell je eher wirksam ist und umso eher zu höheren Preisen führt, desto eher die kartellierte Ware aus Sicht der Marktgegenseite nicht durch eine andere Ware ersetzt werden kann. Die Abnehmer können schlicht nicht auf ein anderes Produkt ausweichen; das Kartell ist daher für diese Ware oder Dienstleistung wirksam.
Während bisher nur jene Elemente erörtert wurden, die für eine Wirksamkeit eines Kartells sprechen, berücksichtigt die Kammer völlig zurecht auch jene Anknüpfungstatsachen, die gegen eine Wirksamkeit des Kartells sprechen.
In allererster Linie kommt es dabei auf die Preissensibilität der Abnehmer an. Sind die Abnehmer nämlich preissensibel, ist es den Kartellanten insgesamt schwieriger möglich, ihre kartellbedingte Preisüberhöhung am Markt auch durchzusetzen. Die zugrunde liegende Überlegung lässt sich am ehesten mit einem „Misstrauensprinzip“ abbilden: Erhöhten alle Kartellanten womöglich zeitgleich die Preise für ihre Produkte erheblich, steigerte sich auch ihr Entdeckungsrisiko, weil die jeweiligen Abnehmer eine solche gleichsam uniforme Preiserhöhung ebenfalls in erheblicher Höhe bemerken und nicht hinnehmen würden.
Ebenso ist gegen die Wirksamkeit des Kartells das Element der Kartelldisziplin zu beachten, also zu bedenken, ob sich die Kartellanten überhaupt an ihre Absprachen hielten. Hier gilt, dass je geringer die Kartelldisziplin ist, umso eher also Kartellanten von der Absprache abweichende Angebote an Erwerber machen, das Kartell umso eher nicht wirksam ist und umso niedriger die Schadenshöhe ist. Der zugrunde liegende Gedanke verfängt, weil ein Schaden naturgemäß dann nicht eintritt, wenn sich Kartellanten trotz entsprechender Absprachen nicht an diese Absprachen halten.
Bei nur oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, dass Abnehmer kaum je substantiierten Sachvortrag zur Kartelldisziplin halten können, weil sich die bereits eingangs angesprochene Informationsasymmetrie hier fortsetzte. Der Abnehmer weiß weder um die Kartellabsprachen noch darum, ob sich die Kartellanten daran gehalten haben. Eine gewichtige Ausnahme mag hier trotzdem klägerische Darlegungen im Sinne eines Indizienbeweises ermöglichen. Das Ausscheren aus der Kartelldisziplin durch einzelne Kartellanten kann nur dazu dienen, weitere von der Absprache nicht umfasste Umsätze zu generieren und die Markstellung und damit vor allem den Marktanteil auszubauen. Fehlt es also an der Kartelldisziplin, verändern sich zwangsläufig die Marktanteile der Kartellanten. Damit können auch Abnehmer diese Marktanteilsveränderung in ihrem Sinne indiziell vortragen.
Konkrete Schadenshöhe
Damit ist die Frage der nach § 287 ZPO durch das Gericht geschätzten Schadenshöhe bzw. des Prozentsatzes des Kartellschadens am Erwerbspreis noch nicht beantwortet. Aber auch hier gibt es zahlreiche Anknüpfungstatsachen und weitere Plausibilisierungen für den von der Kammer konkret benannten Prozentsatz von 15 %.
Die Parteien hatten den vorgenannten Betrag im Rahmen Allgemeiner Geschäftsbedingungen für den Fall eines Rechtsverstoßes schlicht und ergreifend vereinbart. Dies nimmt die Kammer mit näherer Begründung als Anhaltspunkt, ohne unmittelbar auf die Klausel und die damit verbundenen AGB-rechtlichen Probleme abstellen zu müssen. Diese Schadenspauschalierungsklausel auf 15 % ist im deutschen Markt absolut üblich und findet sich in nahezu allen Formularhandbüchern zum Vertragsrecht.
Ausgewogene Interessenlage
Der unmittelbare Vorteil der vorgenannten Abwägungen liegt darin, dass Abnehmer und Kartellanten nicht einseitig benachteiligt bzw. bevorzugt werden. Es ergibt sich ein durchaus fairer Interessenausgleich, weil es den Kartellanten und Abnehmern auf diese Weise ermöglicht wird, die vorgenannte Elemente durch eigenen Tatsachenvortrag zu be- oder widerlegen oder aber, und dies ist zu betonen, die Schätzung schlicht dadurch zu verhindern, indem sie den durch das Kartell tatsächlich realisierten Preisaufschlag schlicht aufdecken.
Substantiierungsanforderungen und gesetzliche Vermutung der 9. GWB-Novelle
Der vorstehende Gedanke, dass ein umfassender Interessenausgleich schon allein deshalb gewahrt ist, weil die Beklagten die Absprachen offenlegen könnten, dürfte sich auch hinsichtlich der Substantiierungsanforderungen des jeweiligen Parteivortrages fortsetzen.
Nach geltender Rechtslage trifft den Kläger die Darlegungs- und Beweislast für den erlittenen Schaden. Werden jedoch die aufgezeigten Anknüpfungstatsachen durch kartellgeschädigten Kläger vorgetragen, trifft die Kartellanten in Ansehung von § 138 ZPO die Last substantiierten Gegenvortrages, der nicht ohne Berücksichtigung ihres kartellbedingten Sonderwissens bleiben kann. Denn schon nach dem Wortlaut des § 138 Abs. 1 ZPO haben die Parteien ihre Erklärung über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben.
Im neuen Recht, seit der Geltung der 9. GWB-Novelle, ist schließlich zu bedenken, dass es zunächst für die Haftung dem Grunde nach nicht mehr der Darlegung der vorbenannten Anknüpfungstatsachen durch den kartellgeschädigten Kläger bedarf: Nach § 33a GWB n.F. wird der Schadenseintritt als solcher bereits im Sinne von § 292 ZPO vermutet. Mit Blick auf diese gesetzliche Vermutung genügt substantiierter Gegenvortrag unter Berücksichtigung des kartellbedingten Sonderwissens durch die Kartellanten nicht mehr. Kartellanten müssen nach der zivilprozessualen Dogmatik stattdessen den Beweis des Gegenteils unter Berücksichtigung ihres kartellbedingten Sonderwissens erbringen.
Am 17.09.2021 hat Dr. Thomas Thiede die vorstehenden Thesen bei einer Veranstaltung des Competition Litigation Forum in Frankfurt am Main vorgestellt und mit Dr. Juliane Bayer von CEG und Jean-François Laborde diskutiert.
Den Foliensatz zu der Veranstaltung finden Sie unter diesem [Link].