Minus mal Minus ist nicht Plus – jedenfalls im Kartellrecht!

Nach europäischem und mitgliedstaatlichem Recht sind Transaktionen nur bei Erreichen bestimmter Umsatzschwellen der Zielgesellschaft oder hinreichend hohen Gegenleistungs- oder Transaktionswerten durch die Kartellbehörde im Rahmen der Fusionskontrolle zu prüfen. Der Versuch der Europäischen Kommission auch solche Transaktionen prüfen zu lassen, die die Aufgreifschwellen nicht erreichen ist nun gescheitert.

„Killer Acquisitions“

Nach Wahrnehmung der Europäischen Kommission beförderte die starre Anknüpfung anhand von Umsatzschwellen innovationsfeindliche „Killer Acquisitions“ von Zielgesellschaften deren Wettbewerbspotential sich (noch) nicht in deren Umsätzen widerspiegelt.

Die Europäische Kommission fand eine Lösung des Problems in einer Änderung der Verweisungspraxis nach Art. 22 EG-Fusionskontrollverordnung (FKVO). Nach der Neufassung des Leitfadens zu dieser Vorschrift sollten Mitgliedstaaten fortan Zusammenschlussverfahren als „Korrektiv“ der schwellenbasierten Zusammenschlusskontrolle selbst dann an die Europäische Kommission verweisen können, wenn der Anwendungsbereich der mitgliedstaatlichen Zusammenschlusskontrollvorschriften nicht erreicht war.

Die Rechtssache Illumina

Erster Testfall dieser selbst geschaffenen Zuständigkeit war ein Zusammenschluss im Pharmasektor ohne räumlichen Bezug zur Europäischen Union. GRAIL, ein US-amerikanisches, auf Krebserkennung spezialisiertes Unternehmen für Genomsequenzierung, sollte durch die US-amerikanische Illumina übernommen werden.

Die Transaktion war in Ansehung der Umsätze von GRAIL weder bei der Europäischen Kommission noch in einem Mitgliedstaat anzumelden. Die Europäische Kommission forderte die französische nationale Kartellbehörde zur Verweisung nach Art. 22 FKVO auf; die Autorité de la concurrence kam der Aufforderung nach. Illumina vollzog zwischenzeitlich den Zusammenschluss. Da die Verweisung durch eine nationale Kartellbehörde an die Europäische Kommission das bußgeldbewehrte Vollzugsverbot des Art. 7 FKVO auslöst, verhängte die Europäische Kommission eine Geldbuße von EUR 432 Mio. und traf einstweilige Maßnahmen. GRAIL musste von Illumina getrennt gehalten werden; alternative Transaktionen in Vorbereitung einer möglichen Rückabwicklung des Zusammenschlusses waren zu erarbeiten. Zuletzt wies die Europäische Kommission Illumina an, GRAIL zu veräußern.

Das in der Sache zunächst befasste Gericht der Europäischen Union (EuG) entschied, dass die Auslegung des Art. 22 FKVO als „Korrektiv“ durch die Europäische Kommission zutreffend sei und wies die von Illumina angestrengte Klage ab. Im Kern sei, so das EuG, jede Transaktion mit „gemeinschaftsweiter Bedeutung“ zu prüfen, unabhängig davon, ob nationale Umsatzschwellen erreicht worden seien (Urt. v. 23.07.2022, T-227/21).

Diese sehr weite Ansicht des EuG vermochte schon den Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht zu überzeugen. Letzthin führe dies dazu, so der Generalanwalt, dass die Europäische Kommission nahezu jeden Zusammenschluss, der irgendwo auf der Welt stattfinde, unabhängig von den Umsätzen der Unternehmen, ihrer Präsenz in der Europäischen Union und dem Transaktionswert prüfen und untersagen könne. Dies sei weder effizient, noch vorhersehbar und würde jedwede Rechtssicherheit der Zusammenschlussbeteiligten beseitigen.

Mit seinem jüngsten Urteil schließt sich der EuGH dieser durchaus pointierten Kritik an. Ein Mitgliedstaat mit nationalen Fusionskontrollvorschriften kann keine Verweisung nach Art. 22 FKVO beantragen, wenn der Zusammenschluss nicht unter sein nationales Fusionskontrollregime falle (Urt. v. 03.09.2024, C-611/22).

Albträume des M&A-Geschäfts

Die Rechtssache hatte für die Praxis eine fast albtraumartige Dimension. Etwaige Anmeldepflichten eines Zusammenschlusses werden im Vorfeld sorgsam geprüft. Bleibt diese Prüfung ergebnislos, verlaufen Transaktionen für kartellrechtliche Berater in aller Regel recht unaufgeregt. Meldet sich gleichwohl eine Kartellbehörde dürfte die Kritik der beteiligten Parteien am befassten Berater erheblich sein. Es ist kaum zu vermitteln, dass eine unzuständige Behörde durch Verweisung an eine andere unzuständige Behörde nun doch eine Zuständigkeit erlangt, erst recht, wenn aus dem Nichts hohe Bußgelder oder gar eine Entflechtung im Raum steht. Dem EuGH ist demgemäß unbedingt darin beizupflichten, dass die Verweisung die Zuständigkeit der nationalen Kartellbehörde voraussetzt, in deren Rolle sodann (durch Verweisung) die Europäische Kommission eintritt. Fehlt es an der Zuständigkeit der nationalen Kartellbehörde scheidet eine Substitution durch die Europäische Kommission aus.

Zudem darf womöglich zurecht bezweifelt werden, ob das durch die Europäische Kommission angenommene Problem der Beschränkung des Innovationswettbewerbs durch „Ausschaltung“ (noch) umsatzschwacher, aber vielversprechender Unternehmen überhaupt besteht. Zahlreiche dieser innovativen Unternehmen benötigen zunächst entsprechende Kapitalmittel, die von dritten Kapitalgebern zu Verfügung gestellt werden. Diese Kapitalgeber haben dazu nur mehr begrenzten Anlass, wenn sich diese Investitionen nicht rentieren, weil etwaigen Käufern der Erwerb untersagt wird. Ohnedies dürfte es mit einer „Ausschaltung“ nicht weit her sein, weil Erwerber wohl schon angesichts des Kaufpreises ein sehr viel höheres Interesse daran haben dürften, die Innovation kaufmännisch zu verwerten, anstatt sie gleichsam verschwinden zu lassen.

Will man gleichwohl die Prüfdichte erhöhen, stehen auch ohne die nunmehr obsolete Verweisungstechnik der Europäischen Kommission hinreichende Instrumente zur Verfügung. Die Rechtssache Towercast (EuGH, Urt. v. 16.03.2023, C‑449/21) hat gezeigt, dass marktbeherrschende Unternehmen auch nach Abschluss und Integration einer Zielgesellschaft der kartellbehördlichen Prüfung keineswegs entzogen sind.

Zudem ist es dem Europäischen Verordnungsgeber unbenommen, die Aufgreifschwellen senken. Mehr noch könnten nationale Gesetzgeber die mitgliedstaatliche Zusammenschlusskontrolle durch Senken der Aufgreifschwellen oder die Einführung niedriger Transaktionswertschwellen stärken. Wie das vorliegende Urteil eindrucksvoll bestätigt, wird damit ein rechtssicherer Weg beschritten, der die Praxis vor kartellbehördlichen Überraschungen und damit verbundenen Albträumen bewahrt.

  • Prof. Dr. Thomas Thiede, LL.M.

    • Rechtsanwalt
    • Deutsches und europäisches Kartellrecht / Fusionskontrolle
    • Honorarprofessor der Karl-Franzens-Universität Graz