Sind die in der HOAI 2013 vorgesehenen Mindestsätze für Planer und Architekten auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 04.07.2019 (Rs. C‑377/17) bis zur Änderung der HOAI zu Beginn dieses Jahres noch anwendbar? Diese Frage hatten wir hier in der Vergangenheit schon mehrfach aufgrund von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) und des EuGH besprochen. Relevanz hat diese Frage u.a. für derzeit noch bei Gerichten anhängigen Aufstockungsklagen, mit denen Planer und Architekten beabsichtigen, ein vertraglich „zu niedrig“ vereinbartes Honorar noch auf Mindestsatzhöhe zu hieven.
Das jetzige Verfahren ist deswegen besonders, weil der EuGH mit Urteil vom 04.07.2019 im Rahmen des o.g. Vertragsverletzungsverfahrens bereits festgestellt hatte, dass die verbindliche Festsetzung von Mindest- und Höchstsätzen für die Honorare für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren in der HOAI gegen das Unionsrecht und Deutschland damit gegen die Dienstleistungsrichtlinie unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Freizügigkeitgebots verstößt.
Fraglich blieb aber trotz dieser Entscheidung des EuGH, ob diese unmittelbare Rechtswirkung auf Vertragsverhältnisse zwischen Privaten hat oder „nur“ Deutschland verpflichtet, den Verstoß abzustellen und als eine Möglichkeit dessen den verbindlichen Charakter der Mindest- und Höchstsätze aufzuheben (was zwischenzeitlich durch die Verabschiedung der neuen HOAI schon geschehen ist).
Der BGH hat dem EuGH deshalb in einem anderen zivilrechtlichen Rechtsstreit (Rs. C‑261/20) über Aufstockungsansprüche eines Architekten die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob § 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen des laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die – nach der Entscheidung des Gerichtshofs – dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI 2013 über verbindliche Mindestsätze auf den Vertrag der Parteien nicht mehr anzuwenden sind.
Nun also widmet sich der EuGH derzeit erneut diesem Problem mit der Aussicht, in dieser Rechtsfrage hiernach Rechtssicherheit zu schaffen. Am 03.05.2021 fand die mündliche Verhandlung statt, an der Kläger (Kläger) sowie die Europäische Kommission (Kommission) und das Königreich der Niederlande (Niederlande) als Beteiligte teilnahmen.
Wie nicht anders zu erwarten, vertraten sowohl die Niederlande als auch die Kommission – allerdings mit völlig unterschiedlichen Argumentationen – die Ansicht, dass die in § 7 HOAI 2013 geregelten Mindestsätze für das streitige Rechtsverhältnis nicht zur Anwendung gelangen können. Der Kläger demgegenüber ging von einer bloßen ex nunc–Wirkung (also „ab‑jetzt“‑Wirkung) des Urteils des EuGH über die Unionsrechtswidrigkeit im Vertragsverletzungsverfahren und damit von der fortbestehenden Verbindlichkeit der Mindestsätze der HOAI aus, die Basis seiner Klage auf Honoraraufstockung sind.
Angesichts der zahlreichen Fragen, die der EuGH im Laufe der mündlichen Verhandlung sowohl an die Niederlande als auch an die Kommission in Bezug auf die dogmatische Herleitung der unmittelbaren Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie und des Art. 16 Charta der Grundrecht der Europäischen Union (GCR) stellte, erscheint es wahrscheinlich, dass der EuGH von einer Unanwendbarkeit des § 7 HOAI 2013 ausgeht, also die Mindestsätze nicht als verbindlich ansieht, aber noch nicht genau weiß, wie er das begründen will. Fraglich erscheint derzeit daher mehr das „Wie“ als das „Ob“ der Unanwendbarkeit der in § 7 HOAI 2013 geregelten Mindestsätze. Offen ist auch der zeitliche Anknüpfungspunkt, der einerseits im Ablauf der Umsetzungsfrist oder der Verkündung des Vertragsverletzungsurteils und andererseits im Zeitpunkt des Abschlusses des betroffenen Vertrags und damit der jeweiligen Fassung der HOAI oder der letzten mündlichen Verhandlung im Aufstockungsklageverfahren gesehen werden kann.
Fällt die Entscheidung so, wie erwartet und verlieren damit die Mindestsätze ihre Verbindlichkeit, dürften viele derzeit laufenden Aufstockungsklagen unbegründet sein, weil die Vereinbarung von Honoraren unterhalb der Mindestsätze eben nicht wegen Verstoßes gegen den Mindestsatz unwirksam und die Honorarvereinbarung damit rechtswirksam waren.
Das Urteil wird daher mit großer Spannung erwartet. Die Schlussanträge des Generalanwalts wurden für den 15.07.2021 angekündigt. Ein Urteil könnte daher noch vor Jahresende folgen.