Der Zusammenhang zwischen völkerrechtlich verbürgten Grundrechten und dem Wirtschafts- und Unternehmensrecht mag auf den ersten Blick nicht offensichtlich erscheinen. Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Sachen MGN Limited gegen United Kingdom (Urt. v. 20.09.2022, 72497/17) zeigt jedoch, dass sogar die Vergütung von Rechtsanwälten in Zivilverfahren an den Maßstäben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu messen ist.
Die freie Presse als Kontrollinstanz
Die EMRK sieht neben den allgemeinen Verbürgungen von Menschenrechten auch Gewährleistungen für einzelne Branchen, so etwa für Medienunternehmen vor. Dies mag nicht weiter überraschen, wird doch gerade die Presse seit Thomas Carlyle als „vierte Gewalt“ der Demokratie verstanden. Der Glaube an die Presse als Hüterin der Wahrheit, als Wächterin der Öffentlichkeit, als Fundament der Demokratie – kurz gesagt, als vierte Gewalt – ist gewiss eines der Herzstücke westlich geprägter Demokratien. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die unabhängige Presse für Demokratien von wesentlicher Bedeutung sei, weil sie zur freien Meinungsäußerung, Gedanken- und Gewissensfreiheit beitrage, die Reaktionsfähigkeit und Rechenschaftspflicht der Regierungen gegenüber allen Bürgern stärke und eine pluralistische Plattform und einen Kanal für die politische Meinungsäußerung für eine Vielzahl von Gruppen und Interessen biete. Kurz: Die freie Presse wird allgemein als Kontrollinstanz im Rahmen der Gewaltenteilung begriffen – mit den Worten von Thomas Jefferson: „Wo die Presse frei ist und jeder lesen kann, ist alles sicher.“
Ausgehend von dieser Idee finden sich Regelungen zur freien Meinungsäußerung und Medienfreiheit in nahezu allen demokratischen Verfassungen und in supranationalen Vereinbarungen. So ist etwa die Garantie der freien Meinungsäußerung als grundlegendes Menschenrecht in der von der UNO verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und in der EMRK verankert. Die vorbenannten völkerrechtlichen Verträge und ihre Gewährleistungen nahmen erst mit den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg konkrete Gestalt an, weil man bis dahin davon ausging, dass das Völkerrecht allein zwischenstaatliche Angelegenheiten beträfe und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten auszuschließen sei: Die Exekutive konnte ihren Bürgern Menschenrechte im Rahmen der nationalen Rechtsordnungen nach Belieben gewähren oder verweigern.
Schere im Kopf
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte sich indes die Erkenntnis durch, dass hier Änderungsbedarf bestand. Da die deutsche nationalsozialistische Regierung nach dem Reichstagsbrand gegen Verleger und Journalisten vorgegangen war, wurden die Handlungen und mehr noch die Ideologie der Nationalsozialisten während der 1930er Jahre kaum je in Frage gestellt. Journalisten und Verleger erhielten sich der kritischen Stellungnahme um einer Verfolgung zu entgehen; man spricht bis heute von der „Schere im Kopf“.
Die AEMR der Vereinten Nationen sollte die Wiederholung einer solchen Entwicklung verhindern. Allerdings enthielt sich die Sowjetunion bei der entscheidenden Abstimmung, sodass die Erklärung eben nur eine solche Erklärung blieb, also nicht das Stadium erreichte, in dem die Rechte des Einzelnen einklagbar wurden. Als gleichsam politische Reaktion der westeuropäischen Staaten wurde die AEMR als regional begrenzte Kopie als EMRK verabschiedet. Art. 19 der AEMR wurde als Art. 10 EMRK umgesetzt und lautet wie folgt: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt das Recht ein, Meinungen zu vertreten sowie Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Grenzen zu empfangen und weiterzugeben.“
Horizontale und vertikale Gewährleistungen
Die EMRK enthält selbstverständlich keine Regelungen zum Zivil-, Wirtschafts-, Unternehmens- oder gar Zivilprozessrecht. Gleichwohl ist richtigerweise davon auszugehen, dass der EGMR in all diesen Fragen die letztentscheidende Instanz ist, weil die EMRK die Signatarstaaten dazu verpflichtet, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Zu den Rechtsinstrumenten, die die Unterzeichnerstaaten einsetzen, um dieser Pflicht zur Schaffung eines wirksamen Rechtsbehelfs nachzukommen, gehören eben auch Regelungen des Zivil-, Wirtschafts-, Unternehmens- und Zivilprozessrechtes. Überdies muss ein solcher Rechtsbehelf unabhängig davon zur Verfügung gestellt werden, ob die Verletzung auf das Verhalten einer Regierung, eines Unternehmens oder einer Einzelperson zurückzuführen ist. Rechtsverletzungen und dementsprechend auch Rechtsbehelfe betreffen nicht nur die vertikale Beziehung zwischen öffentlichen Einrichtungen und Einzelpersonen, sondern auch die horizontalen Beziehungen zwischen Einzelpersonen. Zudem sind die in der EMRK verankerten Rechte nicht auf zwischenstaatliche Angelegenheiten beschränkt, sondern können von Bürgern der Signatarstaaten vor Gericht eingeklagt werden; jeder einzelne Bürger eines Unterzeichnerstaates kann beim EGMR eine Beschwerde gegen einen Signatarstaat einreichen.
Aufgrund dieser drei Merkmale können betroffene Bürger und Medienunternehmen jede nennenswerte zivilrechtliche Sache vor den EGMR bringen mit der Behauptung, dass der Unterzeichnerstaat keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen Verletzungen der Meinungsfreiheit vorsieht; jedes nationale Gesetz, für das der EGMR zuständig ist, wird letztlich an den Maßstäben der EMRK gemessen und ausgelegt, an denen der EGMR eine sehr sorgfältige Prüfung von Eingriffen in die Presseberichterstattung und -veröffentlichungen vornehmen wird.
Ohrfeigen
Mit Blick auf den geschilderten Ursprung überrascht gewiss nicht, dass der EGMR Art. 10 EMRK denkbar weit auslegt. „Jeder“ bedeutet tatsächlich „jeder“, einschließlich Verleger, Zeitungen und Journalisten. Der EGMR hat häufig betont, dass sich die Meinungsfreiheit auch auf die Pressefreiheit erstreckt, weil nur so eine kritische Bewertung der politisch Handelnden ermöglicht werde. Ganz mit Carlyle und Jefferson hat der EGMR den Medien die Rolle des „Wachhundes der Öffentlichkeit“ zugewiesen und nicht nur der Inhalt der zum Ausdruck gebrachten Ideen und Informationen geschützt, sondern auch die Form und die Mittel der Verbreitung, mit denen sie vermittelt werden.
Dieser Schutz schlägt sich nicht nur im allgemeinen Zivilrecht in Form von Verleumdungsklagen nieder, sondern auch im Zivilprozessrecht. In jüngerer Zeit bedienen sich öffentlich kritisierte Personen und Unternehmen nämlich sogenannter SLAPP-Klagen. Die aus dem Englischen stammende Abkürzung SLAPP steht dabei für strategic lawsuit against public participation, also eine strategisch ausgerichtete Klage gegen öffentliche Beteiligung, wobei die allgemeinsprachliche Bedeutung „Slap“, also die Ohrfeige, das Vorgehen womöglich besser trifft. SLAPP-Klagen verfolgen das Ziel, Kritiker einzuschüchtern und ihre öffentlich vorgebrachte Kritik zu unterbinden. Sie wird wohl in den meisten Fällen von Unternehmen, aber auch von Privatpersonen oder Behörden angestrengt, um etwa Kritik an den Geschäftspraktiken eines Unternehmens oder Äußerungen von Privatpersonen zu unterbinden. Das Kalkül der Kläger beruht dabei in aller Regel nicht darauf, dass entsprechende Klagen zulässig und begründet sind. Vielmehr werden zum Teil deutlich überzeichnete Streitwerte angesetzt, um kritisch berichtenden Journalisten und Medienunternehmen den Eindruck zu vermitteln, dass sie im Unterliegensfall wegen der zu erstattenden Gebühren schlicht insolvent seien. Es geht in den seltensten Fällen um die Erfolgsaussichten einer entsprechenden Klage, sondern um die vorbeschriebene „Schere im Kopf“: Der oft persönlich in Anspruch genommene Journalist soll von der Berichterstattung in Ansehung eines Prozessverlustes, der damit verbundenen Gebührenschuld und (Privat-)Insolvenz von einer Berichterstattung abgehalten werden.
Schon im Jahr 2011 hat der EGMR in der Sache MGN Limited gegen United Kingdom (Urt. v. 18.01.2011, 39401/04) für die im Recht von England und Wales erstattungsfähigen Erfolgshonorare festgehalten, dass letztere extrem kostenträchtigen Vereinbarungen und die damit verbundene Wirkung auf die Berichterstattung unzulässig seien. Die finanziellen Auswirkungen der Erfolgshonorare, so der EGMR, würden Journalisten davon abhalten, ihre Pressefreiheit überhaupt auszuüben und etwa Material zu veröffentlichen, das andernfalls ordnungsgemäß veröffentlicht worden wäre.
Wandel des Geschäftsmodells
Es erscheint durchaus zweifelhaft, dass Jeffersons Sinnspruch von der freien Presse und der durch sie vermittelten Sicherheit, ja überhaupt die Rolle als „Wachhund“ jedenfalls in ihrer Absolutheit noch Bestand hat. Die Vorstellung, dass die Demokratie dort gestärkt werde, wo Massenmedien eine größere Transparenz fördern, indem sie in ihrer Überwachungsfunktion Korruption und Fehlverhalten verhindern, ein bürgerliches Forum für eine vielstimmige öffentliche Debatte bieten und Probleme aufzeigen, die in die politische Agenda einfließen, scheint zuweilen nur ein verklärtes Bild der Vergangenheit zu sein. Das Geschäftsmodell wenigstens einzelner Medienunternehmen besteht wohl nicht mehr darin zu informieren und aufzuklären, sondern um das Publikum nur mehr zu unterhalten: Zuweilen werden eher lüsterne Interessen des Publikums befriedigt, statt über aktuelle und relevante politische Entwicklungen zu informieren und diese einzuordnen.
Caroline von Hannover
Diese Entwicklung bildet sich auch in der Rechtsprechung des EGMR ab. Jüngere Entscheidungen deuten darauf hin, dass auch der Gerichtshof Medienfreiheit nicht als Selbstzweck versteht, sondern bereit ist, die in Art. 10 Abs. 2 EMRK aufgezeigten Grenzen mit Leben zu füllen. Dort heißt es: „Da die Ausübung dieser Freiheit mit Pflichten und Verantwortung verbunden ist, kann sie den gesetzlich vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Sanktionen unterworfen werden, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des Ansehens oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Weitergabe vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und Unparteilichkeit der Justiz erforderlich sind.“
Wie in Art. 10 Abs. 2 EMRK ausdrücklich erwähnt, können die Rechte oder Freiheiten, die die EMRK der anderen Partei gewährt, das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken. Dazu gehört auch das zentrale Persönlichkeitsrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK, deren Verletzung häufig Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Politiker, führende Geschäftsleute, Künstler, Sportler, Unterhaltungsstars und Schauspieler trifft, weil die Öffentlichkeit ein großes Interesse daran zu haben scheint, umfassende Informationen über deren Privatleben zu erhalten.
Der führende Fall in dieser Hinsicht ist gewiss Caroline von Hannover gegen Deutschland (EGMR, Urt. v. 24.06.2004, 59320/00) wo Bilder veröffentlicht wurden, die dieses Mitglied der Monarchie von Monaco in alltäglichen Situationen wie beim Sport, beim Spazierengehen, im Urlaub und beim Abendessen mit Freunden zeigten. Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied, dass Caroline als Person des öffentlichen Lebens auch außerhalb ihrer Wohnung den Schutz ihres Privatlebens genießt, allerdings nur dann, wenn sie sich an einem abgeschiedenen Ort außerhalb der Öffentlichkeit aufhält, „an den sich der Betroffene mit dem objektiv erkennbaren Ziel zurückzieht, allein zu sein, und wo er sich im Vertrauen darauf, allein zu sein, in einer Weise verhält, wie er sich in der Öffentlichkeit nicht verhalten würde“. Das BVerfG hat der Pressefreiheit, auch der Unterhaltungspresse, und dem öffentlichen Interesse an der Kenntnis des Privatlebens von Caroline entscheidendes Gewicht beigemessen.
Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung, die weitgehend zugunsten der Medien ausfiel, war der EGMR anderer Meinung und legte großen Wert auf den Schutz der Privatsphäre. Er entschied, dass eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nur dann gerechtfertigt sei, wenn die veröffentlichten Fotos und Artikel einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem öffentlichen Interesse leisten. Da Caroline keine offizielle Funktion ausübte, bezogen sich die Fotos und Artikel ausschließlich auf Einzelheiten ihres Privatlebens und leisteten keinen solchen Beitrag zu einer öffentlichen Debatte. Der EGMR kam zu dem Schluss, dass die deutschen Gerichte kein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens hergestellt hatten und dass daher Art. 8 EMRK verletzt worden war. Daher wurde die Entscheidung des BVerfG revidiert und Caroline schließlich eine beträchtliche Schadensersatzsumme zugesprochen.
Der Ansatz des EGMR hatte erhebliche Auswirkungen auf die Boulevardpresse in Europa und als unmittelbare Reaktion verfassten deutsche Chefredakteure einen offenen Brief an die damalige deutsche Bundeskanzlerin, in dem sie das Ende der westlichen Demokratie ankündigten, wenn die vom EGMR vorgeschriebene „Zensur“ nicht gestoppt würde. Sie argumentierten, dass durch das Urteil allen seriösen Journalisten die Hände gebunden und sie nun nicht mehr in der Lage seien, den „Mächtigen auf die Finger zu klopfen“.
Die deutsche Demokratie existiert freilich nach wie vor und der EGMR hat seine Rechtsprechungslinie nicht aufgegeben: In der jüngst entschiedenen Sache MGN Limited gegen United Kingdom (Urt. v. 20.09.2022, 72497/17) verhandelte der EGMR wiederum Klagen und damit verbundene Erfolgshonorare. Die Beweglichkeit des völkerrechtlichen Systems kam dabei ganz besonders elegant zum Ausdruck, weil der EGMR derartige Erfolgshonorare im gegenständlichen Fall ausdrücklich zuließ. Die Klägerin, eine Herausgeberin von drei überregionalen Zeitungen, wurde in einem Verfahren wegen Verletzung der Privatsphäre verurteilt, das eine Gruppe von Klägern – hauptsächlich Prominente, Fernsehpersönlichkeiten und Fußballspieler – gegen sie angestrengt hatte. Im Laufe dieses Verfahrens räumte das Medienunternehmen ein, dass ihre Journalisten unrechtmäßig private und vertrauliche Informationen abgehört hatten, indem sie auf die Sprachnachrichten der Mobiltelefone der Kläger zugriffen und zudem unrechtmäßig private Informationen über Privatdetektive erlangten und Berichte auf der Grundlage dieser Informationen veröffentlicht hatten. Zudem diente der Inhalt der Berichterstattung bestenfalls der Befriedigung niederer Instinkte der Leser. Der Zweck, so der EGMR, hätte hier gewiss nicht die Mittel geheiligt; an der Veröffentlichung der erlangten Informationen bestand gerade kein öffentliches Interesse; es sei nicht einmal ansatzweise um die Teilnahme an Debatten über Angelegenheiten von legitimen öffentlichem Interesse gegangen. Das klagende Medienunternehmen konnte sich daher angesichts der Hartnäckigkeit, der Verbreitung und der erheblich rechtswidrigen Hacking- und sonstigen Aktivitäten sowie des Fehlens jedweder öffentlicher Bedeutung der Informationen, die enthüllt wurden, gerade nicht auf eine Beeinträchtigung der Medienfreiheit berufen.
Fazit
Es zeigt sich, dass der völkerrechtliche Schutz der Medien gerade in Gestalt der Gewährleistungen der EMRK ein durchaus bewegliches System bietet. Schützenswertes wird auch geschützt; nicht schützenswertes wird nicht geschützt. Es müssen zwei Grundsätze, die beide von dem französischen Philosophen Voltaire formuliert wurden, in ein Gleichgewicht gebracht werden. Das erste ist ein klassisches Zitat zur Meinungsfreiheit: „Uns mag nicht gefallen, was du sagst, aber die liberale Gesellschaft verteidigt dein Recht, es zu sagen, bis in den Tod“. Heutzutage scheint das zweite Zitat, das fälschlicherweise Winston Churchill oder sogar Stan Lee zugeschrieben wird, noch wichtiger zu sein: „Mit großer Macht kommt große Verantwortung“.