In ihrer jüngsten Entscheidung zur internationalen Zuständigkeit in Kartellschadensersatzfällen (EuGH, Urt. v. 15.07.2021, C-30/20 – Volvo u.a.) führen die Richter des EuGH scheinbar Altbekanntes aus. Eine genauere Lektüre offenbart jedoch, dass – klärungsbedürftige – Fragen ausgeklammert und die Gerichtsstände konzentriert wurden.
Schon die oberflächliche Lektüre der vorliegenden Entscheidung muss erstaunen. Eine geschädigte Klägerin erhebt gegen mehrere ausländische und gegen die spanische Tochtergesellschaft eines LKW-Herstellers Klage auf Ausgleich des durch Kartellverstöße verursachten Schadens. Die drei ausländischen Gesellschaften sind dabei ausdrücklich im Bußgeldbescheid der Europäischen Kommission benannt, es handelt sich insofern um einen follow on-Fall; die spanische Tochtergesellschaft findet im Bußgeldbescheid indes keine Erwähnung.
Die Klägerin hat dabei ihren Geschäftssitz nicht in Madrid, sondern in Córdoba und hat die streitgegenständlichen LKW auch in Córdoba erworben. Indes wurde die Klage nicht etwa in Córdoba eingebracht, sondern in Madrid, wo – soweit ersichtlich – allein die spanische Tochtergesellschaft des LKW-Herstellers ihren Sitz hat. Bei der Formulierung der Vorlagefragen durch das madrilenische wurde jedoch eben jener Punkt ausgespart und im Kern allein darauf verwiesen, dass ein Gericht in Córdoba zuständig sei. Im Kern wünschte das madrilenische Gericht die Bestätigung des EuGH, dass es gewiss unzuständig sei, ohne die entscheidende Frage vorzulegen, die eine Zuständigkeit begründen könnte.
Mütter und Töchter
Will man – wohl anders als das madrilenische Gericht – auf die internationale Zuständigkeit und eben nicht die Unzuständigkeit abheben, gilt es, die spanische Tochter der Kartellbeteiligten in Madrid und somit das Zusammenspiel zwischen einer Passivlegitimation der Tochtergesellschaft für Verstöße der Muttergesellschaft und den Gerichtsstand des Sachzusammenhanges näher zu betrachten.
Bekanntlich entschied der EuGH in der Rs. Skanska (Urt. v. 14.03.2019, ECLI:EU:C:2019:204), dass Muttergesellschaften die Kartellrechtsverstöße ihrer Tochtergesellschaften zugerechnet werden, weil der europäische Unternehmensbegriff mit der Folge gelte, dass nicht einzelne juristische Personen, sondern die gesamte wirtschaftliche Einheit passivlegitimiert sei. Da Einheitsunternehmen nicht gegenüber Konzernunternehmen benachteiligt werden sollen, besteht ein Unternehmen im vorgenannten europäischen Sinne bereits dann, wenn einzelne Gesellschaften zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengefasst sind, so etwa, wenn wirtschaftliche, organisatorische oder rechtliche Bindungen bestehen. Zur Beurteilung dieser Bindungen wird ein einheitliches Marktverhalten nach außen herangezogen (vgl. EuGH, Urt. v. 10.09.2009, ECLI:EU:C:2009:536, Rn. 54 ff. – Akzo Nobel).
Überträgt man das vorbeschriebene Konzept der wirtschaftlichen Einheit zur Bestimmung der Passivlegitimation auf den gleichsam umgekehrten Fall der Zurechnung zwischen Tochter und Mutter, erlangt der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art. 8 Ziff. 1 Brüssel Ia‑VO entscheidende Bedeutung. Diese Vorschrift sieht vor, dass eine Person mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates an dem Gericht des Ortes verklagt werden kann, an dem eine weitere verklagte Person ihren Wohnsitz hat (sog. „Ankerbeklagte”), sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung besteht, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint. In der Rs. CDC (Urt. v. 21.05.2015, ECLI:EU:C:2015:335) entschied der EuGH, dass die Vorschrift auf eine Mehrzahl von im Rahmen eines kartellrechtlichen Schadensersatzprozesses beklagten Unternehmen anwendbar sei, wenn es sich um (jeweils) um eine follow on-Klage handele.
Handlungs- und Erfolgsort
Für den deliktischen internationalen Gerichtsstand sind sodann die grundlegenden Entscheidungen zu Art. 7 Ziff. 2 Brüssel Ia‑VO zu bedenken. Neben der bekannten Leitentscheidung in der Rs. Bier (Urt. v. 30.11.1976, ECLI:EU:C:1976:166), die den deliktischen Wahlgerichtsstand zwischen Handlungs- und Erfolgsort begründete, finden sich für Kartellschadensersatzansprüche die wesentlichen Grundlagen für die internationale Zuständigkeit europäischer Gerichte nach Art. 7 Ziff. 2 Brüssel Ia‑VO in der vorzitierten Entscheidung in der Rs. CDC (Urt. v. 21.05.2015, ECLI:EU:C:2015:335). Der Handlungsort, so der EuGH, könne einerseits der Ort sein, an dem das Kartell „definitiv gegründet” wurde. Da eben die Information des Gründungsortes kaum je preisgegeben werden dürfte oder aber, weil es in vielen Fällen in Ansehung einer Vielzahl von Kartellvereinbarungen bei verschiedenen Treffen nicht möglich sein wird, einen einzigen Gründungsort überhaupt zu bestimmen, kann zudem am Ort der Einzelabsprache geklagt werden. Das letztere Gericht kann im letzteren Fall lediglich über den Schaden befinden, der durch die Einzelabsprache verursacht wurde.
Vor diesem Hintergrund erhält der Wahlgerichtsstand am Erfolgsort ganz erhebliches Gewicht, der – in Abweichung zu den allgemeinen Grundsätzen (vgl. EuGH, Urt. v. 07.03.1995, ECLI:EU:C:1995:61 – Shevill; Urt. v. 25.10.2011, ECLI:EU:C:2011:685 – eDate) – für die Entscheidung über den gesamten Schaden zuständig ist, der dem Geschädigten entstanden ist und, so der EuGH in CDC, am Ort des Geschäftssitzes des jeweiligen Geschädigten liegt, der einen kartellbedingt überhöhten Preis entrichtet hat.
In der Sache flyLAL (Urt. v. 05.07.2018, ECLI:EU:C:2018:533) vertiefte der EuGH sodann die Frage, wie mit Sachverhalten umzugehen sei, in denen mehrere kausale Kartellrechtsverstöße ursächlich für den Schaden sein könnten. Zunächst bestätigte der EuGH, dass Handlungsort der Ort sei, an dem die Kartellabsprache definitiv geschlossen wurde und ergänzte, dass zwar Umsetzungs- und Durchsetzungshandlungen grundsätzlich keinen eigenen Handlungsort begründeten. Anderes gelte jedoch dann, wenn das nachfolgende Verhalten einen gesonderten Verstoß bildete. Dann sei der Handlungsort zusätzlich am Ort der (zusätzlichen) Verwirklichung des Kartellrechtsverstoßes zu verorten. Für den Erfolgsort ergänzte der EuGH sodann den Gerichtsstand am Geschäftssitz des Geschädigten um einen Gerichtsstand an dem durch den Kartellrechtsverstoß beeinträchtigten Marktort.
In der Rs. Tibor-Trans (Urt. v. 29.07.2019, ECLI:EU:C:2019:635) hielten die Luxemburger Richter schließlich fest, dass es auf die Frage des unmittelbaren oder mittelbaren Erwerbes für die Bestimmung des Erfolgsortes nicht ankomme. Auch der mittelbare Abnehmer erleide einen zuständigkeitsbegründenden Erstschaden, der sich nicht am Sitz des Geschädigten verwirkliche, sondern am Marktort der kartellierten Güter.
Unterstellte man schließlich, dass die Brüssel Ia‑VO allein die internationale, nicht jedoch die örtliche Zuständigkeit regelte, wäre Art. 52 Abs. 1 Nr. 12 der spanischen Zivilprozessordnung (Ley de Enjuiciamiento Civil, LEC) bedeutsam. Diese Vorschrift sieht die örtliche Zuständigkeit des Gerichtes des Ortes vor, an dem die Wirkungen der unerlaubten Handlung eintreten.
Keine Umdeutung der Vorlagefragen
Die vorliegende Entscheidung ist in mehrerlei Hinsicht schlicht unerfreulich. Es wäre dem EuGH wohl unbenommen gewesen, über die konkreten Vorlagefragen hinauszugehen oder diese entsprechend umzudeuten. So hätte jene in CDC offengelassene Frage geklärt werden können, ob der Gerichtsstand des Sachzusammenhanges auf konzernrechtlich verbundene Nichtadressaten einer Kommissionsentscheidung Anwendung findet. In der Sache dürfte daran wohl kaum ein Weg vorbeiführen, weil die Abkehr vom Grundsatz des Beklagtengerichtsstandes in der Sache bereits in der Rs. Skanska angelegt und mit der Gleichbehandlung von Einheitsunternehmen gegenüber Konzernunternehmen auch argumentativ abgesichert sein dürfte. Liegt eine wirtschaftliche Einheit im Sinne der vorzitierten Entscheidungen vor, besteht kein Anlass, die Zurechnung zwischen den Konzerngesellschaften und deren Rolle als jeweilige Ankerbeklagte in Abrede zu stellen.
Der Kern der vorliegenden Entscheidung, namentlich, dass die örtliche Zuständigkeit der internationalen Zuständigkeit folgt, bringt zunächst wenig Neues. Es handelt sich um eine der absolut anerkannten Grundsätze des internationalen Zivilprozessrechts, dass die Brüssel Ia‑VO genauso wie ihre Vorgänger direkt und unmittelbar sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit zuweist. Die Mitgliedstaaten, ebenso wie die Signatarstaaten der Vorgängerregelungen dürfen für die Zuweisung innerhalb eines Mitgliedstaates keine anderen Kriterien aufstellen, als jene, die in der Brüssel Ia‑VO vorgesehen sind. Im Kern subsummieren die Luxemburger Richter die vorzitierten Entscheidungen unter den vorstehenden Obersatz zum Erfolgsort. Dass die Vorlagefragen der madrilenischen Richter in der Sache unerheblich waren, weil in jeder Konstellation das Gericht in Córdoba zuständig gewesen wäre, ist dabei angesichts der verpassten Möglichkeit, die Klärung einer doch durchaus erheblichen Rechtsfrage herbeizuführen, wohl nur mehr lässliches Übel.
Konzentration am Sitz des Geschädigten
Für die Praxis ist zunächst festzuhalten, dass die örtliche Zuständigkeit dort besteht, wo das kartellierte Gut erworben wurde und zwar völlig unabhängig davon, ob es sich um einen unmittelbaren oder mittelbaren Erwerb handelte, sowie zudem am Geschäftssitz des Geschädigten.
Der EuGH entzog sich zwar der Beantwortung der Frage nach dem Zusammenspiel zwischen der Passivlegitimation von Konzerngesellschaften und dem Gerichtsstand des Sachzusammenhanges, für die Frage der Konkurrenz der Erwerbsorte im Sinne des Art. 7 Ziff. 2 Brüssel Ia‑VO übte er keine derartige Zurückhaltung, obgleich dies im Sachverhalt nicht angelegt war. Für die Praxis sind daher die Ausführungen des EuGH zu beachten, in der die Konkurrenz mehrerer Erwerbsorte in verschiedenen Sprengeln nunmehr dergestalt geregelt wird, dass eine Zuständigkeit jeweils an diesen Erwerbsorten entfalle und allein das Gericht am Sitz des geschädigten Unternehmens allein örtlich zuständig sei. Ob sich die damit verbundene Abkehr vom Grundsatz des Beklagtengerichtsstandes tatsächlich mit Fragen der Prozessökonomie rechtfertigen lässt, ist zweifelhaft, mag aber dahingestellt bleiben, weil mit dieser durchaus pragmatischen Lösung die Interessen sowohl Geschädigtem als auch Kartellbeteiligtem in Ausgleich gebracht werden. Der Geschädigte kann die Ansprüche gleichsam gebündelt an seinem Heimatgerichtsstand verfolgen; die Kartellbeteiligten sind nicht einer Vielzahl von Verfahren vor unterschiedlichen Gerichten an den Erwerbsorten ausgesetzt. Es wäre weder dem Geschädigten noch den Kartellbeteiligten damit gedient, wenn die Ansprüche an vielen unterschiedlichen Gerichten gleichsam deutschlandweit verfolgt würden. Zudem gilt der von Beitzke geprägte Satz, dass derjenige, der in das Ausland hinüberwirkt und Andere im europäischen Ausland schädigt, damit rechnen müsse, von den Geschädigten auch vor dortigen Gerichten verklagt zu werden entsprechend: Der Geschäftssitz der Geschädigten dürfte den Kartellanten in aller Regel bekannt gewesen sein.