Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten bestimmt sich die internationale Zuständigkeit der Gerichte der europäischen Mitgliedstaaten nach der sogenannten Brüssel Ia‑VO. Danach ist zunächst das Gericht am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten an dessen Wohnsitz für jedwede Klagen international zuständig. Die Brüssel Ia‑VO sieht zudem Wahlgerichtsstände vor, die zum internationalen Gerichtsstand des Beklagten an dessen gewöhnlichem Aufenthaltsort hinzutreten.
Wahlgerichtsstände
Die Zulassung der Wahlgerichtsstände rechtfertigt sich daraus, dass im Ausland zuweilen Beweise leichter zugänglich sind, aber – mehr noch – dadurch, dass den Beteiligten bewusst ist, dass sie im Ausland handeln und Anlass zur Klage geben. Wer aber in das Ausland hinüberwirkt, muss auch damit rechnen, vor dortigen Gerichten verklagt zu werden.
Gerade die vorgenannte Prämisse hat sich in Art. 7 der Brüssel Ia‑VO niedergeschlagen. Wegen der räumlichen Nähe eines Rechtsstreites zur übereigneten Sache, der erbrachten Dienstleistung usw. ist nach dieser Vorschrift das Gericht des Mitgliedstaates „an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre“ international zuständig, sofern ein „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ den Gegenstand des Verfahrens bilden.
Handelt es sich jedoch nicht um einen Vertrag, sondern um ein außervertragliches Schuldverhältnis (wie es etwa bei einem Verkehrsunfall entsteht), kann der Schädiger vor dem Gericht des Ortes geklagt werden, „an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist.“ Mit dieser Formulierung ist dabei einerseits der Ort gemeint, an dem das schädigende Ereignis veranlasst worden ist (Handlungsort), andererseits aber auch der Ort, an dem der Schaden eingetreten ist (Erfolgsort).
Verhältnis der Gerichtsstände
Da sowohl der vertragliche Gerichtsstand als auch die Gerichtsstände am Handlungs- bzw. Erfolgsort eröffnet sein können, gilt es, die Fragen nach dem Verhältnis der jeweiligen Gerichtsstände zueinander zu beantworten. Nach der Entscheidung des EuGH in Rs. Brogsitter geht dabei der Vertragsgerichtsstand dem Gerichtsstand der unerlaubten Handlung vor (EuGH, Urt. v. 13.03.2014, C‑548/12).
Der EuGH entschied, dass eine Klage allein im vertraglichen Gerichtsstand zulässig sei, wenn „das vorgeworfene Verhalten als Verstoß gegen die vertraglichen Verpflichtungen angesehen werden kann, wie sie sich anhand des Vertragsgegenstands ermitteln lassen.“ Dies sei dann gegeben, wenn „eine Auslegung des Vertrags zwischen dem Beklagten und dem Kläger“ für die Beurteilung, ob „das dem Beklagten vom Kläger vorgeworfene Verhalten rechtmäßig oder vielmehr widerrechtlich ist, unerlässlich erscheint“.
Brogsitter-Defence
Aus Sicht des Praktikers ist diese Entscheidung unerfreulich, kann sie doch dazu führen, dass der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ausgehöhlt wird. Erhebt ein Kläger seine Schadensersatzklage nicht am Vertragsgerichtsstand, sondern am hiervon abweichenden Gerichtsstand der unerlaubten Handlung, wird die Gegenpartei nur (schlüssig) einwenden müssen, dass ihr Verhalten vertraglich gerechtfertigt sei bzw. der Vertrag jedenfalls auslegungsbedürftig und deshalb das Gericht am Ort der unerlaubten Handlung international unzuständig sei. In der Folge wäre die Klage am Deliktsgerichtsstand als unzulässig abzuweisen.
Wikingerhof
Im nunmehr entschiedenen Fall des EuGH (Urt. v. 24.11.2020, C‑59/19) ging es der Sache um die Auseinandersetzung zwischen dem in Deutschland liegenden Hotel „Wikingerhof“ und der Buchungsplattform „booking.com“. Wikingerhof berief sich auf einen Verstoß gegen das deutsche Kartellrecht, das den Missbrauch einer beherrschenden Stellung unabhängig von einem Vertrag oder einer anderen freiwillig eingegangenen Verpflichtung allgemein verbiete. Konkret habe Wikingerhof wegen der starken Stellung von booking.com auf dem maßgeblichen Markt keine andere Wahl gehabt, als den fraglichen Vertrag abzuschließen und den Auswirkungen der späteren Änderungen der AGB von booking.com zu unterliegen, auch wenn bestimmte Verhaltensweisen von booking.com unbillig gewesen seien.
Booking.com ist ein Unternehmen in Luxemburg, dass seine Leistung auch in Luxemburg erbringt. Der Wikingerhof ist ein deutsches Unternehmen und reichte seine Klage in Deutschland ein, sodass die Frage nach der Gültigkeit der „Brogsitter-Defence“ entscheidend war: Der Erfüllungsort der Dienstleistung war in Luxemburg, sodass der vertragliche Gerichtsstand allein dort zu bejahen war. Der Erfolgsort der außervertraglichen Haftung lag indes in Deutschland, denn hier wurde der Wikingerhof geschädigt. Würde sich booking.com auf den Vorrang des vertraglichen Gerichtsstandes berufen können, wäre die Klage des Wikingerhofes in Deutschland unzulässig gewesen.
Noch nach der Ansicht des OLG Schleswig (Urt. v. 12.10.2017, 16 U 10/17) gründete sich der Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung durch booking.com direkt auf den Vertragsbedingungen, sodass die Klage am deutschen Erfolgsortsgerichtsstand ausscheide. Der BGH verwies in seiner Vorlageentscheidung demgegenüber darauf, dass die vertragliche Regelung ohnehin zurücktreten müsse, weil es auf Seiten des Kartellgeschädigten an der Freiwilligkeit gefehlt habe, die prägend für eine vertragliche Vereinbarung sei (BGH, Urt. v. 11.12.2018, KZR 66/17 = NZKart 2019, 145).
Auch der EuGH ging schließlich davon aus, dass deutsche Gerichte am Erfolgsort zuständig seien. Die zentrale Rechtsfrage, so der EuGH, läge darin, ob booking.com eine beherrschende Stellung im Sinne des Kartellrechts missbraucht habe. Für die Feststellung, ob die booking.com vorgeworfenen Praktiken nach diesem Wettbewerbsrecht rechtmäßig oder rechtswidrig seien, sei es zwar nicht unerlässlich, den Vertrag zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens auszulegen, weil eine solche Auslegung erforderlich sei, um das Vorliegen dieser Praktiken festzustellen. Allerdings sei davon auszugehen, dass die Klage von Wikingerhof, soweit sie auf die gesetzliche Verpflichtung gestützt ist, eine marktbeherrschende Stellung nicht zu missbrauchen, eine außervertragliche Haftung zum Gegenstand habe.
Casum sentit dominus
Der kartellrechtliche Hintergrund der Entscheidung mag ihre präzise Einordnung erschweren. Eine solche Einordnung ist aber dennoch möglich, wenn man sich auf die ganz grundlegenden Prinzipien des Zivilrechts zurückbesinnt. Eines dieser absolut grundlegenden Prinzipien ist jene des „casum sentit dominus“: Jedermann hat erlittene Schäden grundsätzlich selbst zu tragen. Ausnahmen gelten nur dann, wenn Zurechnungsgründe bestehen, die eine Überwälzung des Schadens rechtfertigen.
Anhand dieser Zurechnungsgründe nimmt der EuGH nunmehr seine Unterscheidung vor. Liegen die Zurechnungsgründe in einer Pflichtverletzung in der vertraglichen Beziehung der Parteien, ist der Vertragsgerichtsstand eröffnet; handelt es sich um einen Verstoß gegen außervertragliche Verhaltenspflichten, kann die Klage vor dem Deliktsgerichtsstand erhoben werden. Die „Brogsitter-Defence“ ist damit – zurecht – abgeschafft.