Landauf, landab werden zahlreiche Kartellschadensersatzfahren zum sogenannten LKW-Kartell geführt. Angesichts ganz erheblicher Abweichungen innerhalb der Entscheidungen der Instanz- und Obergerichte ist die Entscheidung des BGH (Urt. v. 23.09.2020, KZR 35/19, Vorinstanz OLG Stuttgart) zum Themenkomplex hoffnungsvoll erwartet worden.
Hintergrund
Den Hintergrund des entschiedenen Falles bildet das sogenannte LKW-Kartell. Nach den Feststellungen der Europäischen Kommission tauschten namhafte LKW-Hersteller über einen Zeitraum von etwa 14 Jahren ihre Bruttopreislisten und Informationen über Preise und Preiserhöhungen sowie Zeitpunkt der Einführung neuer Emissionstechnologien und Weitergabe der damit verbundenen Kosten an die Kunden aus. In einigen Fällen stellte die Europäische Kommission Absprachen über Bruttopreislistenerhöhungen fest. Wegen des Verstoßes gegen das Kartellverbot verhängte die Europäische Kommission eine Geldbuße von etwa EUR 3 Mrd.
Die im Bausektor tätige Klägerin hatte im Kartellzeitraum zahlreiche LKW erworben und begehrte nun den Ersatz des durch die Kartellabsprachen verursachten Schadens, konkret den kartellbedingten rechtswidrigen Preisaufschlag.
Überall Täter, nirgendwo Opfer?
Bekanntlich sind Gerichte – etwas vereinfacht – an die Ergebnisse der Untersuchungen der Kartellbehörden gebunden. Probleme ergeben sich indes dann, wenn in dem behördlichen Bescheid jene Aspekte nicht überbordend deutlich werden, die für die schadensersatzrechtliche Würdigung der Gerichte erheblich sind. Im Falle des Bescheides der Europäischen Kommission im LKW-Kartell lag es etwa so, dass die Frage der Qualität des Kartellrechtsverstoßes der LKW-Hersteller von Amts wegen gar nicht vertieft ausgeführt wurde, weil für die Bebußung schon eine recht oberflächliche Darstellung genügte. Die verbindliche Fassung in englischer Sprache tat ihr übriges.
Ihrem Auftrag treu, verstanden es die Prozessvertreter der Beklagten in der Folgezeit recht trefflich, bei den befassten Instanzgerichten Zweifel dahingehend zu wecken, ob in dem durch die Europäische Kommission bebußten (!) Verhalten überhaupt ein Kartellrechtsverstoß liege.
Exemplarisch sei eine Entscheidung LG Nürnberg-Fürth (Urt. v. 20.2.2020, 19 O 1506/19) hervorgehoben. Nach der Ansicht der dortigen Kammer habe nämlich nur ein „reiner Informationsaustausch“ vorgelegen. Die sehr allgemein gehaltenen Umschreibungen könnten, so die Kammer des LG Nürnberg-Fürth, keine Rückschlüsse auf konkrete Verhaltensweisen der Beklagten bieten. Insbesondere ergebe sich hieraus nicht, dass die Kartellbeteiligten konkrete kartellrechtswidrige Vereinbarungen getroffen haben, ja nicht einmal Preisinformationen ausgetauscht hätten. Allenfalls vage, so die Nürnberger Richter, werde im Bußgeldbescheid „angedeutet“, dass der Kartellrechtsverstoß die Kartellbeteiligten in die Lage versetzt haben könnte, die ausgetauschten Informationen bei ihren internen Planungsprozessen zu berücksichtigen. Insgesamt gäbe es keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die gegenständlichen, den Informationsaustausch betreffenden Kartellrechtsverstöße überhaupt beachtet und umgesetzt wurden, sich diese also nachteilig auf die einzelnen Beschaffungsvorgänge ausgewirkt hätten.
Ob dieser Ausführungen der Nürnberger Instanzrichter rieben sich zahlreiche Prozessbeobachter verdutzt die Augen: Wie kann es sein, dass die Europäische Kommission eine Geldbuße von EUR 3 Mrd. wegen eines Kartellrechtsverstoßes verhängt, obgleich niemand zu Schaden gekommen ist? Die Doyenne des Kartellrechts und Bochumer Professorin Lohse brachte das Erstaunen der Kartellrechtler mit folgendem Bonmot besonders prägnant auf den Punkt: Es gäbe zwar überall Täter, aber wohl nirgendwo Opfer.
Mit dem jüngsten Urteil ist der Volte des bebußten, aber schadensfreien Kartellrechtsverstoßes Einhalt geboten. Der BGH stellt sehr deutlich klar, dass die LKW-Hersteller an wettbewerbsbeschränkenden Absprachen, sprich einem schuldhaft rechtswidrigen Kernverstoß gegen Kartellrecht, beteiligt waren. Es hätte nicht nur abgestimmte Verhaltensweisen gegeben, sondern es seien Vereinbarungen über Preise und Preiserhöhungen getroffen worden. Diese Absprachen hätten die Kartellbeteiligten in die Lage versetzt, bei ihren internen Planungsprozessen und der Planung zukünftiger Preiserhöhungen die Listenpreiserhöhungen der Wettbewerber zu berücksichtigen. Die jeweiligen kartellrechtswidrig abgestimmten Listenpreise seien wiederum bei allen an den Absprachen beteiligten LKW-Herstellern der Ausgangspunkt der Preisgestaltung gewesen. Die Verrechnungspreise für die Einfuhr der Lastkraftwagen in verschiedene Märkte durch eigene oder fremde Vertriebsunternehmen und anschließend die von den Händlern auf nationalen Märkten zu zahlenden Preise seien so festgelegt worden. Ja sogar die Endkundenpreise seien unmittelbar durch den Hersteller verhandelt und festgelegt worden.
Ursächlichkeit
Im deutschen Schadensersatzrecht wird, anders als in nahezu allen anderen Rechtsordnungen, die Frage der Ursächlichkeit eines schuldhaft rechtswidrigen Verhaltens für einen erlittenen Schaden gleichsam aufgespalten. Man unterscheidet zwischen einer haftungsbegründenden Kausalität, welche die Ursächlichkeit der Rechtsgutsverletzung beim Geschädigten und der Handlung des Schädigers abbilden soll, von der haftungsbegründenden Kausalität, also der Ursächlichkeit der Rechtsgutsverletzung für den Schaden. Im Kartellschadensersatzrecht bildet man diese Zweiteilung mit den Begriffen der Kartellbetroffenheit für die haftungsbegründende Kausalität und der Kartellbefangenheit für die haftungsausfüllende Kausalität ab.
Schon die allgemeine Aufspaltung der Kausalität sorgt bei Juristen anderer Länder oftmals für Heiterkeit, weil sich in der (so oft für Präzision und Dogmatik hochgelobten) deutschen Zivilrechtsordnung keine Begründung für diese Aufspaltung entnehmen lässt. Im spezifischeren Falle des Kartellschadensersatzrechtes gilt dies umso mehr: Es ist kaum ein Fall denkbar, in dem ein Erwerb vom Kartellbeteiligten zwar kartellbefangen, aber eben nicht kartellbetroffen ist, mit anderen Worten sich der Schaden zwar auf den Kartellrechtsverstoß zurückführen lässt, es jedoch an einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Erwerb des kartellierten Gutes und Kartell fehlt. Folgerichtig ist die Unterscheidung für das Kartellrecht in der Literatur ganz erheblich kritisiert worden.
Der BGH schließt sich dieser Literaturkritik nun (unausgesprochen) an und bestätigt, dass jedenfalls im Regelfall des gegen sämtliche (potentielle) Abnehmer gerichteten Kartellrechtsverstoßes das Tatbestandsmerkmal der Kartellbetroffenheit schlicht entbehrlich ist.
Schaden
Damit bleibt als eigentlicher Kernpunkt die Frage nach der haftungsausfüllenden Kausalität, also danach, ob dem Abnehmer durch den Kartellrechtsverstoß ein Schaden entstanden ist. Dass gerade jene Frage im Kartellschadensersatz so erhebliche Schwierigkeiten verursacht, beruht auf der sogenannten Informationsasymmetrie zwischen Kartellbeteiligten und ihre Abnehmer und den Regeln zur Darlegungs- und Beweislast.
Es treffen zwei gegenläufige Prinzipien aufeinander: Die Natur einer Kartellabsprache bedingt, dass diese geheim bleibt. Eine gleichsam öffentliche Kartellabsprache führte nicht nur zur unmittelbaren Aufdeckung und Bebußung. Die Kartellabsprache wäre auch nicht wirksam, weil Abnehmer die kartellbedingte Preiserhöhung – völlig zurecht – verweigerten.
Die Darlegungs- und Beweislast für die Auswirkung der (sohin unbekannten) Kartellabsprache, namentlich der kartellbedingten Preiserhöhung liegt nach deutscher zivilrechtlicher Dogmatik aber beim Abnehmer der Kartellbeteiligten. Dieser Abnehmer des kartellierten Gutes muss im Grundsatz im gerichtlichen Verfahren darlegen und beweisen, dass sich die Absprache auf den gezahlten Preis auswirkte. Da der Abnehmer aber die Absprache nicht kennt, die Kartellbeteiligten diese Informationen nicht preisgeben und die Kartellbehörden – wie gezeigt – nur gehalten sind, ihre Ermittlungen recht oberflächlich in den Bußgeldbescheiden offenzulegen, können Abnehmer kartellierter Güter daher ihrer Darlegungs- und Beweislast kaum je genügen.
Die Instanz- und Rechtsmittelgerichte erkannten das Dilemma und entwickelten drei Lösungsansätze. Das OLG Karlsruhe (Urt. v. 31.07.2013, 6 U 51/12 (Kart.)) verwies auf den BGH für einen ersten Anscheinsbeweis dahingehend, dass Kartelle zu einer Marktpreissteigerung führten. Wenn aber Kartelle zu einer Erhöhung des Marktpreises führen, streite, so das OLG Karlsruhe, ein weiterer Anscheinsbeweis dafür, dass von den Kartellanten erworbene Güter kartellbefangen seien und den Erwerbern ein Schaden entstanden sei. Das LG Dortmund (Urt. v. 21.12.2016, 8 O 90/14) zog den EuGH in der Rs. Kone (ECLI:EU:C:2014:1317) heran: Wenn, wie durch den EuGH erkannt, Kartellanten schon für solche Schäden hafteten, die durch den Erwerb bei Kartellaußenseitern entstünden (sog. Preisschirm), dann müsse die Kartellbetroffenheit und der Schaden bei einem direkten Erwerb erst recht anzunehmen sein. Während die vorgenannten Gerichte von einem Anscheinsbeweis ausgingen – der beklagte Kartellant muss den Erfahrungssatz erschüttern, was kaum je gelang –, verwies das OLG Düsseldorf (Urt. v. 22.08.2018, VI-U (Kart) 1/17) stattdessen auf eine Vermutung der Kartellbetroffenheit und eines Schadens, wenn das Erwerbsgeschäft in zeitlichem, räumlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem Kartellverstoß stünde.
Das BGH vermag – erstaunlicherweise – dem Erfahrungssatz, dass Kartelle höhere Marktpreise verursachten, indes nichts abgewinnen und verschloss sich einer Beweiserleichterung für Abnehmer kartellierter Güter. Stattdessen wurde das – längst in Vergessenheit geratene – zivilprozessuale Mittel der „tatsächlichen Vermutung“ wiederbelebt. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein Indizienbeweis: Die Abnehmer müssten, so jedenfalls der BGH, sämtliche Tatsachen vortragen, die dafür sprächen, dass das Kartell zu einer Preiserhöhung der erworbenen Produkte geführt habe, wobei der Erfahrungssatz zwar durchaus zu berücksichtigen sei, aber eben gerade nicht dazu führe, dass nunmehr die Beklagten darzulegen hätten, dass der Erfahrungssatz im konkreten Fall nicht gelte.
Im Kern habe der Tatrichter, so der BGH, anhand der vorgetragenen Indizien das Gewicht des Erfahrungssatzes abhängig von der konkreten Ausgestaltung des Kartells und seiner Praxis auszulegen. Der Erfahrungssatz sei dabei umso eher gegeben, je länger und nachhaltiger ein Kartell praktiziert wurde und je größer daher die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Kartell Auswirkungen auf das Preisniveau gehabt habe, welches sich infolge der Ausschaltung oder zumindest starken Dämpfung des Wettbewerbs eingestellt habe.
Der Spagat zwischen der Verweigerung eines an sich einleuchtenden Erfahrungssatzes und der Aufrechterhaltung des in vergangenen Urteilen favorisierten Indizienbeweises ist dabei schon in der Vergangenheit und so auch im vorliegenden Urteil wenig gelungen. Nimmt man den Ausführungen des BGH sein sprachliches Kleid, soll der Erfahrungssatz dann (umso eher) gelten, wenn hinreichende Indizien dafür vorliegen, dass es zu einer Marktpreissteigerung kam. Dann braucht es doch aber, bei Lichte betrachtet, des Erfahrungssatzes entweder überhaupt nicht oder nur mehr zur Entscheidung im Falles eines Pattes.
„Gängelung“ des OLG Senates
Umso bedauerlicher ist daher die Zurückweisung des BGH an den Senat des OLG Stuttgart, der das Ausgangsurteil verfasste. Der BGH hätte aus den Feststellungen des Senates des OLG m.E. ohne weiteres die geforderten Indizien entnehmen können und damit den Erfahrungssatz als erfüllt werten können. Die Begründung Zurückverweisung erschöpft sich letztlich in bloßen Darstellungsfehlern des OLG, wenn der BGH nun rügt, dass die Formulierung des OLG besorgen lasse, dass der Erfahrungssatz insgesamt nicht fallbezogen angewendet worden sei. Die Zurückweisung wegen einer falschen Formulierung ist auch erstaunlich: Die vom BGH gerügte Beweiswürdigung, zu der auch die tatsächliche Vermutung gehört, ist der revisionsrichterlichen Überprüfung durch den BGH eigentlich entzogen (§ 559 Abs. 2 ZPO).
So bleibt im Ergebnis nach der Lektüre ein schales Gefühl: Es ist zweifelsohne höchst erfreulich, dass der BGH dem willentlichen Missverständnis des Bußgeldbeschlusses der Europäischen Kommission Einhalt geboten hat und die dogmatische Grundstruktur des Kartellschadensersatzanspruches gleichsam verschlankt. Andererseits hätte es zur Durchsetzung der ohnedies recht zweifelhaften Rechtsansicht von der tatsächlichen Vermutung der Gängelung des Senates des OLG Stuttgart wohl nicht bedurft.