Nachdem den Verhandlungsparteien am 24.12.2020 der Durchbruch bei den Verhandlungen um den Brexit gelungen war, gilt es nun, das geschlossene Abkommen zu analysieren. Für die Praxis des internationalen Handels- und Gesellschaftsrechtes heißt dies, die Regelungen zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen genauer zu untersuchen. Das Ergebnis dieses Studiums ist indes ernüchternd: Die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen bleibt im Abkommen unerwähnt.
Im Juni 2016 stimmten etwa 52 % der britischen Bürger für den Austritt aus der Europäischen Union (EU). Im März 2017 erklärte die Regierung des Vereinigten Königreichs den Austritt offiziell und begann mit den Verhandlungen über die Bedingungen des Austrittsabkommens. Mit dem nun erfolgten Abschluss dieser Verhandlungen handelt es sich beim Vereinigten Königreich nicht mehr um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Damit kommt auch die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich zum Erliegen.
Die Brüssel Ia-Verordnung
Eines der Kernstücke dieser justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen sind die Rechtsregeln zur internationalen Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Zivil- und Handelssachen. Die entsprechenden Regeln wurden erstmalig 1968 im Brüsseler Übereinkommen (EuGVÜ) geregelt und in der Folgezeit beständig weiterentwickelt. Das Abkommen wurde 2001 in die Brüssel I‑Verordnung (Brüssel I‑VO oder EuGVVO, VO (EG) Nr. 44/2001) überführt, welche schließlich durch eine neugefasste Brüssel Ia‑Verordnung (VO (EU) Nr. 1215/2012) ersetzt wurde.
Die Brüssel Ia‑Verordnung enthält zunächst die entscheidenden Regeln zur internationalen Zuständigkeit europäischer Gerichte in Sachverhalten mit Auslandsberührung. Im Vergleich zu ihren Vorgängervorschriften, aber auch im Vergleich zu mitgliedstaatlichen Vorschriften zur Zuständigkeit von Gerichten, handelt es sich bei der Brüssel Ia‑Verordnung um ein recht modernes Gesetz. So sieht die Brüssel Ia‑Verordnung etwa die Stärkung von Verbrauchern dahingehend vor, dass jene Verbraucher an ihrem Wohnsitz Klage gegen ein ausländisches Unternehmen erheben können. Zudem gelang es mit der Brüssel Ia‑Verordnung dem Unwesen der Torpedo-Klagen Einhalt zu gebieten (wir berichteten). Schließlich lag die wesentliche Neuerung der Brüssel Ia-Verordnung in der Abschaffung des sogenannten Exequaturverfahrens: Nach dem vorherigen Rechtszustand bedurfte es für die Vollstreckung eines ausländischen Urteils im Inland einer Vollstreckbarkeitserklärung eines inländisches Gerichtes. Dieses Verfahren dauerte oftmals viele Monate, war teuer und mit Blick auf den hohen Rechtsstand in den europäischen Mitgliedstaaten einigermaßen nutzlos. Kaum je wurde einem Urteil aus einem anderen europäischen Mitgliedstaat die Anerkennung verwehrt.
Da es gerade für das Vereinigte Königreich und etwa seine Finanzinstitute entscheidend sein dürfte, ein verlässlicher Partner zu sein, wenn es um die Durchsetzung ausländischer Rechtsprechung geht, sowie seinen eigenen Bürgern und Unternehmen die Möglichkeit zu geben, ihre Ansprüche im Ausland erfolgreich durchzusetzen, war erwartet worden, dass es im Abkommen zu entsprechenden Regeln zur justiziellen Zusammenarbeit und etwa einer (angepassten) Fortgeltung der Regeln zur internationalen Zuständigkeit und zur Anerkennung von Urteilen kommen würde. Da dies nun nicht geschehen ist, gilt es, die möglichen Alternativen zu bestimmen.
Lugano-Übereinkommen
Das Lugano-Übereinkommen (LugÜ) wurde 1988 gleichsam als Parallelübereinkommen zum Brüsseler Übereinkommen durch die damaligen sechs Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) Norwegen, Island, Schweiz, Österreich, Finnland und Schweden und der Europäischen Union geschaffen. Das Lugano-Übereinkommen wurde im Jahre 2007 überarbeitet (LugÜ II) und wiederum durch die EU und die verbleibenden EFTA-Staaten, Island, Norwegen und Schweiz geschlossen.
Ausweislich des Austrittsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU wurde das Lugano-Übereinkommen bis zum 31.12.2020 auf das Vereinigte Königreich angewendet. Ab dem 01.01.2021 ist das Lugano-Übereinkommen indes nicht mehr auf das Vereinigte Königreich anwendbar. Allerdings wurde schon am 08.04.2020 das entsprechende Beitrittsgesuch gestellt. Der Beitritt setzt indes die Zustimmung aller Vertragsparteien (Dänemark, Island, Norwegen, Schweiz und die EU) voraus. Soweit ersichtlich hat bisher allein die Schweiz zugestimmt. Sobald indes die Zustimmung der weiteren Vertragsparteien vorliegt, kann das Vereinigte Königreich zum Beitritt eingeladen werden. Das Lugano-Übereinkommen würde dann drei Monate nach der Ratifizierung im Vereinigten Königreich in Kraft treten.
Mit der Geltung des Lugano-Übereinkommen wäre die internationale Zuständigkeit bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nahezu parallel zum etwas veralteten Rechtszustand der Brüssel I‑Verordnung geregelt. Insbesondere sieht das Lugano-Übereinkommen das zeitaufwendige und kostenintensive Exequaturverfahren im oben beschriebenen Sinne vor. Aus der Perspektive des Vereinigten Königreiches dürfte sich schließlich der Auslegungskanon zum Lugano-Übereinkommen als ganz besonders „schmerzlich“ erweisen, weil die Bindung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) durch den Brexit gerade unterbunden werden sollte: Im Grundsatz besteht zwar keine Vorabentscheidungskompetenz des EuGH zum Lugano-Übereinkommen, sondern allein die Pflicht der Gerichte, den Grundsätzen in maßgeblichen Entscheidungen des EuGH und der Gerichte anderer Vertragsstaaten gebührend Rechnung zu tragen. Nach ganz allgemeiner Ansicht wird diese Pflicht „zum Rechnung tragen“ aber als „Verbindlichkeit“ der Rechtsprechung des EuGH verstanden.
Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen
Eine weitere Alternative bestünde in einem (Neu-)Beitritt des Vereinigten Königreiches zum Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen aus dem Jahre 2005. Diesem internationalen Übereinkommen sind zahlreiche Staaten und auch die Europäische Union beigetreten.
Das Haager Übereinkommen regelt nur einen marginalen Teilbereich der Zuständigkeit der Gerichte und Anerkennung und Vollstreckung in grenzüberschreitenden Fällen, namentlich jenen der Vereinbarungen über die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte und die Wirkung einer solchen Prorogation. Nach dem Haager Übereinkommen sind durch die Parteien gewählte Gerichtsstände durch die Gerichte der Vertragsstaaten – mit zahlreichen Ausnahmen – zu respektieren. Fällt dieses Gericht eine Entscheidung so wird ein Exequaturverfahren im Vollstreckungsstaat vorgesehen, jedoch die Gründe der Versagung der Anerkennung recht erheblich eingeschränkt.
Der Ablauf einer grenzüberschreitenden Vollstreckung ist dabei den Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens überlassen. Eine Möglichkeit zur Anrufung eines supranationalen Gerichtes bei der Verletzung der Vorschriften des Übereinkommens ist naturgemäß nicht vorgesehen. Es handelt sich um ein völkerrechtliches Übereinkommen mit all den bekannten Durchsetzungsdefiziten.
Quo vadis Britannia?
Es liegt auf der Hand, dass die Geltung allein des Haager Übereinkommens nicht ausreichend sein kann. Einerseits ist sein Geltungsbereich auf ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen beschränkt. Andererseits ist der Vollstreckungsmechanismus und insbesondere das Exequaturverfahren mit all seinem Zeitaufwand, Kosten und Unwägbarkeiten den Vertragsstaaten überlassen.
Der Beitritt zum Lugano-Übereinkommen hätte immerhin den Vorteil, dass sich der Anwendungsbereich nicht nur auf ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen beschränkte und anerkannte Gerichtsstände für die gängigsten gerichtlichen Auseinandersetzungen vorgesehen wären. Allerdings müsste auch unter Geltung dieses Übereinkommens das zeit- und kostenintensive Exequaturverfahren durchlaufen und der Rechtsprechung des EuGH gefolgt werden. Letzteres sollte durch den Brexit aber gerade vermieden werden.